Ökumenischer Rat der Kirchen
ZENTRALAUSSCHUSS
Potsdam, Deutschland
29. Januar - 6. Februar 2001
Dokument Nr. PI 2rev


Zur Beschlussfassung

DER SCHUTZ GEFÄHRDETER BEVÖLKERUNGSGRUPPEN IN SITUATIONEN BEWAFFNETER GEWALT:
EIN ÖKUMENISCHER ETHISCHER ANSATZ

Einführung

Auf seiner letzten Tagung (September 1999) verabschiedete der Zentralausschuss ein Memorandum und Empfehlungen zur internationalen Sicherheit und zur Reaktion auf bewaffnete Konflikte; dieses Dokument ruft zu neuen Ansätzen auf dem Weg zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit in der Situation nach dem Ende des Kalten Krieges auf und weist auf einige vor allem durch die Kosovo-Erfahrung entstandene Dilemmata im Zusammenhang mit "humanitären Interventionen" hin. Der Zentralausschuss forderte den Generalsekretär des ÖRK auf,

"in Konsultation und Zusammenarbeit mit kirchlichen und anderen humanitären Einrichtungen und mit qualifizierten Forschungsinstituten eine Studie über die Ethik sog. 'humanitärer Intervention‘ zur Vorlage im Zentralausschuss auszuarbeiten und dabei das legitime Recht von Staaten, keine unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu dulden, wie auch die moralischen Pflicht der internationalen Gemeinschaft zu berücksichtigen, in Fällen einzugreifen, in denen Staaten nicht bereit oder nicht in der Lage sind, auf ihrem Hoheitsgebiet die Achtung der Menschenrechte oder den Frieden zu gewährleisten".
Die Frage der sog. "humanitären Intervention" gab zu Anfang der 90er Jahre weltweit Anlass zu ernster Sorge, als der Zugang humanitärer Organisationen zu Bevölkerungsgruppen in äußersten humanitären Notlagen mehreren Orten, insbesondere im Südsudan und in Nordirak, von der politischen Führung aus politischen Gründen verhindert wurde. Das gab Anlass zu zahlreichen theoretischen Untersuchungen und zu Debatten in Kreisen der Vereinten Nationen, in denen der neue Posten eines Stellvertretenden Generalsekretärs für humanitäre Angelegenheiten eingerichtet wurde.

Spätere militärische Interventionen in Ländern wie Somalia, Bosnien-Herzegowina und später im Kosovo, die gelegentlich als aus "humanitärischen Gründen" gerechtfertigt hingestellt worden sind, haben das Thema erneut ins Rampenlicht gerückt.

Kirchliche und ökumenische Debatten über dieses Thema haben im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein spalterisches Element in die Gemeinschaft getragen und drehten sich theologisch darum, bis zu welchem Grade Christen unter bestimmten Bedingungen den Einsatz von Streitkräften hinnehmen können. Kirchen waren jedoch auch bei staatlichen und internationalen Entscheidungsträgern als Gesprächspartner gefragt, denn auch sie hatten sich mit den davon berührten moralischen, ethischen und auch theologischen Fragen herumzuschlagen.

Die angesprochenen Themen sind vielschichtig und verdeutlichen die neuen moralischen und ethischen Dilemmata, vor denen die Welt und die ökumenische Bewegung seit dem Ende des Kalten Krieges in wachsendem Maße stehen. Die Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (CCIA), die vom Zentralausschuss mit einer entsprechenden Studie beauftragt worden war, hat sich intensiv mit dieser Vielschichtigkeit befasst und einen Entwurf des beigefügten Dokuments vorgelegt. Dieser wurde vom Zentralausschuss bei seiner Sitzung in Potsdam, Deutschland (Januar/Februar 2001), bei der auch die Dekade zur Überwindung von Gewalt eröffnet worden ist, erheblich überarbeitet. Der Zentralausschuss vertrat die Auffassung, dass Bemühungen um Überwindung von Gewalt in einer gewalttätigen Welt unternommen werden, in der während diese Debatte stattfindet, Bevölkerungsgruppen bedroht sind. Die Debatte über den Entwurf machte erneut die unterschiedlichen theologischen Positionen in den Mitgliedskirchen zu Gewalt und Gewaltlosigkeit deutlich.

Die Mitglieder des Zentralausschusses wurden aufgefordert, diesen Entwurf vor der Tagung den zuständigen Entscheidungsgremien ihrer Kirchen zum weiteren Dialog und zur Reflexion vorzulegen und dem Zentralausschuss ihre eigene Stellungnahme und die ihrer Kirchen abzugeben, in der Hoffnung, dass Formulierungen gefunden werden, die einvernehmlich angenommen werden können.

Ein solcher Konsens konnte indessen nicht erzielt werden. Die unterschiedlichen Positionen unter den Christen über den Einsatz bewaffneter Gewalt -- die nachstehend ausführlicher dargestellt werden -- bestehen fort. Über das Problem des Schutzes der Bevölkerung in Situationen bewaffneter Gewalt, das in dem folgenden Hintergrunddokument dargelegt wird, konnte jedoch breite Übereinstimmung erzielt werden. Zudem hat der Zentralausschuss weitere Kriterien und Leitlinien für den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt geprüft und überarbeitet. Auch hier bleiben Differenzen bestehen. Der Zentralausschuss beschloss jedoch, sie zusammen mit dem Hintergrunddokument zu erneutem Studium, Nachdenken und -- soweit sie sie für geeignet halten -- zum Gebrauch in ihrem anhaltenden Dialog mit Politikern, Regierungen, internationalen Organisationen, Forschungseinrichtungen, Friedensgruppen und mit der Zivilgesellschaft insgesamt an die Kirchen weiterzuleiten. Der Zentralausschuss bat, der CCIA die Ergebnisse dieser Studien, Reflexionen und Gespräche zugänglich zu machen; in überarbeiteter Form soll dann das Dokument dem Zentralausschuss zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorgelegt werden.

HINTERGRUND DES ÖKUMENISCHEN ANLIEGENS

1. Die moralische Verpflichtung der Weltgemeinschaft, das Leben gefährdeter Gruppen der Zivilbevölkerung zu schützen, wenn die zuständige Regierung nicht bereit oder in der Lage ist zu handeln, stößt seit langem innerhalb und außerhalb der ökumenischen Bewegung auf breite Akzeptanz und Fragen christlicher Verantwortung in humanitären Krisen sind in den Kirchen häufig Gegenstand von Reflexion, Diskussion und Gebet. Allerdings hat seit dem Ende des Kalten Krieges die Praxis der so genannten "humanitären Intervention" Anlass zu oft hitzigen internationalen Debatten gegeben. Die Achte Vollversammlung des ÖRK (Harare 1998) bekräftigte

"die zentrale Botschaft des Evangeliums, die besagt, dass in Gottes Augen alle Menschen kostbar sind, dass das Versöhnungs- und Erlösungswerk Christi allen Menschen Würde verleiht, dass Liebe der Beweggrund für Handeln und Nächstenliebe der praktische Ausdruck aktiven Glaubens an Christus ist. Wir sind Glieder an einem Leib, und wenn eines verletzt wird, sind alle verletzt. Dies ist die Verantwortung, die wir als Christen tragen, nämlich dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte eines jeden Menschen geschützt werden."
2. Der Zentralausschuss beschloss 1992, "gewaltloses Handeln möge als deutlicher Akzent für Programme und Projekte im Zusammenhang mit der Beilegung von Konflikten bekräftigt werden". Er rief den ÖRK auf, durch einen Studien- und Reflexionsprozess "klarzustellen, inwieweit die Gemeinschaft (koinonia) herausgefordert wird, wenn Kirchen es unterlassen, systematische Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land kategorisch zu verurteilen."

3. Ein Studiendokument mit dem Titel "Überwindung von Geist, Logik und Praxis des Krieges", das auf diesen Auftrag hin erarbeitet wurde, wurde dem Zentralausschuss bei seiner Tagung in Johannesburg, 1994, vorgelegt.1 Darin heißt es, dass der Beschluss, der 1992 nach der Debatte über den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien im Zentralausschuss gefasst werden konnte,

erneut eines der ältesten Anliegen der ökumenischen Bewegung bekräftigte, das je nach dem jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang auf unterschiedliche Weise formuliert worden ist.
Die am häufigsten zitierte Fassung ist die Erklärung der Ersten Vollversammlung (Amsterdam 1948), in der es heißt:
"Der Krieg als Mittel der Beilegung von Streitigkeiten ist unvereinbar mit der Lehre und dem Vorbild unseres Herrn Jesus Christus." ... "Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen."
Zehn Jahre später erklärte die Weltkirchenkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat (1937) am Vorabend des Zweiten Weltkrieges
"Wenn Krieg ausbricht, muss die Kirche erst recht und in unverkennbarer Weise Kirche sein, dann erst recht muss sie eins bleiben als der eine Leib des Christus, obwohl die Völker, unter denen sie lebt, gegeneinander kämpfen. Sie muss erst recht dieselben Gebete sprechen, nämlich dass Gottes Name geheiligt werde, dass sein Reich komme und sein Wille geschehe in beiden oder allen kriegführenden Nationen."
4. Die Einstellungen der Christen zu Fragen des Krieges und des Einsatzes von Waffengewalt gehen weit auseinander und haben gelegentlich die Einheit der Kirche bedroht. Das oben zitierte Dokument beschreibt das Dilemma:
1948 gab es keine Einigung in dieser Frage. Das Äußerste, was die Vollversammlung durchsetzen konnte, war die Wiedergabe der gegensätzlichen Standpunkte, die in Oxford dargelegt worden waren:
(1) "Da sind zunächst jene, die die Überzeugung haben, dass, wenn der Christ auch unter bestimmten Umständen wird in den Krieg ziehen müssen, ein moderner Krieg mit seinen allumfassenden Zerstörungen niemals ein Akt der Gerechtigkeit sein kann.

(2) Da es gegenwärtig unparteiische, übernationale Instanzen nicht gibt, so meinen andere, militärische Maßnahmen seien das letzte Mittel, um dem Recht Geltung zu verschaffen, und man müsse die Staatsbürger klar und deutlich lehren, dass es ihre Pflicht ist, das Recht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.

(3) Wieder andere lehnen jeden Kriegsdienst irgendwelcher Art ab und sind überzeugt, dass Gott von ihnen verlangt, bedingungslos gegen den Krieg und für den Frieden Stellung zu nehmen, und nach ihrer Meinung müsste die Kirche im gleichen Sinn sprechen."

Die Erste Vollversammlung beschrieb danach das Dilemma in Worten, die für unsere heutige Debatte ebenso zutreffend sind wie zur Zeit der Gründung des ÖRK:
"Wir bekennen offen, dass es uns schwer ist, so verschiedene Meinungen in dieser Sache unter uns zu haben. Wir bitten alle Christen dringend, sie möchten es als ihre Pflicht ansehen, dauernd um diese schwierige Frage zu ringen und in aller Demut Gott zu bitten, er wolle ihnen den rechten Weg zeigen. Wir glauben, dass hier die Theologen die besondere Verpflichtung haben, den theologischen Fragen nachzugehen, um die es sich hier handelt: Derweilen darf die Kirche nicht aufhören, alle, die eine dieser drei Meinungen mit Ernst vertreten und die bereit sind, sich von Gott erleuchten zu lassen und sich Seinem Willen zu unterwerfen, als ihre Brüder und Schwestern anzusehen."
5. Vor diesem Hintergrund hat der Zentralausschuss 1994 das Programm zur Überwindung von Gewalt ins Leben gerufen, damit Christen und Kirchen mit so unterschiedlichen theologischen Standpunkten sich gemeinsam bemühen können, sich der wachsenden Flut der Gewalt auf allen Ebenen der heutigen Gesellschaft entgegenzustellen und eine globale Kultur des Friedens zu fördern.

6. In den 90er Jahren haben die Vollversammlungen und der Zentralausschuss des ÖRK wiederholt über die angemessene Reaktion von Christen auf gewaltsame Konflikte debattiert und sowohl den unverhältnismäßigen Einsatz von Streitkräften zur Eindämmung solcher Konflikte als auch die Unfähigkeit der Weltgemeinschaft verurteilt, in Fällen wie Ruanda die Bevölkerung vor vorhersehbarer massiver Gewalt zu schützen. Sie hat darauf hingewiesen, dass auf entstehende Krisen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt reagiert werden muss, wenn mit gewaltlosen Aktionen noch am wirksamsten die Ursachen von Konflikten zu beseitigen sind.

7. Als Antwort auf die vom Zentralausschuss 1994 aufgeworfenen Fragen, ob und unter welchen Umständen Zwangsmittel zur Durchsetzung von Menschenrechten und den Normen des Völkerrechts in gewaltsamen oder potentiell gewaltsamen Situationen hingenommen werden können, hat die CCIA dem Zentralausschuss 1995 ein "Memorandum und Empfehlungen zur Verhängung von Sanktionen" vorgelegt, und dieser beschloss "Kriterien für die Feststellung der Anwendbarkeit und Wirksamkeit von Sanktionen".

8. Im September 1999 verabschiedete der Zentralausschuss ein Memorandum und Empfehlungen zur internationalen Sicherheit und zur Reaktion auf bewaffnete Konflikte; dieses Dokument ruft zu neuen Ansätzen auf dem Weg zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit in der Situation nach dem Ende des Kalten Krieges auf und weist auf einige vor allem durch die Kosovo-Erfahrung entstandene Dilemmata im Zusammenhang mit "humanitären Interventionen" hin. Der Zentralausschuss forderte den Generalsekretär des ÖRK auf,

"in Konsultation und Zusammenarbeit mit kirchlichen und anderen humanitären Einrichtungen und mit qualifizierten Forschungsinstituten eine Studie über die Ethik der sog. 'humanitäre Intervention‘ zur Vorlage im Zentralausschuss auszuarbeiten und dabei das legitime Recht von Staaten, keine unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu dulden, wie auch die moralischen Pflicht der internationalen Gemeinschaft zu berücksichtigen, in Fällen einzugreifen, in denen Staaten nicht bereit oder nicht in der Lage sind, auf ihrem Hoheitsgebiet die Achtung der Menschenrechte oder den Frieden zu gewährleisten".
9. Ein Studienprozess wurde eingeleitet, um die Fragen zu klären und Richtlinien zur Unterstützung der Kirchen zu entwickeln. Es wurde ein Hintergrundpapier verfasst und mit der Bitte um Stellungnahme an einen großen Empfängerkreis verteilt. Über dieses Papier diskutierte im Januar 2000 die CCIA, und in revidierter Form diente es als Grundlage für die Diskussionen in einem ökumenischen Seminar, das im April 2000 im Ökumenischen Institut in Bossey stattfand. Die Seminarteilnehmer/innen kamen aus allen Teilen der Welt; es nahmen auch Spezialisten für humanitäre Reaktionen, Völkerrecht, Menschenrechte, Ethik und Theologie sowie Vertreter von Kirchen, deren Länder in der letzten Zeit auf die eine oder andere Weise von Interventionen betroffen waren, teil. Zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ÖRK und des Lutherischen Weltbundes reflektierten die Teilnehmenden vom ethischen Standpunkt aus über die Verpflichtung der Weltgemeinschaft, Bevölkerungsgruppen zu schützen, die innerhalb der Grenzen souveräner Staaten gefährdet sind. Auch der umfangreiche Bericht über diese Konsultation wurde zur Stellungnahme an die Mitgliedskirchen und die mit dem ÖRK verbundenen Organisationen verteilt. Schließlich wurde das Dokument von einer speziellen Referenzgruppe der CCIA zwecks Vorlage vor dem Zentralausschuss zur Beratung als Begleitpapier zu dem 1995 verabschiedeten Dokument über Sanktionen überarbeitet.

10. Fast gleichzeitig mit der Fertigstellung dieses Dokuments wurde dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der sog. "Brahimi-Bericht"2 über das Podiumsgespräch zu Friedensoperationen der UNO vorgelegt und bei der Millenniumssitzung der Generalversammlung in New York beraten. Diese Studie, die einen Wendepunkt markiert, enthielt nicht nur eine scharfe Kritik an der UN-Friedenssicherung, sondern auch innovative Vorschläge für Verbesserungen, die enge Parallelen zu den Schlussfolgerungen des ÖRK-Dokuments aufweisen. Daraufhin ergriff der kanadische Außenminister, Lloyd Axworthy, die Initiative zur Einberufung eines hochrangigen Gremiums, das diese Fragen eingehender untersuchen sollte, und lud den ÖRK zur Zusammenarbeit ein, um seine spezifischen moralischen und ethischen Positionen einzubringen.

Neuorientierung der Debatte

11. Als der Zentralausschuss die Studie in Auftrag gab, verlieh er seiner Skepsis bezüglich des Begriffs "humanitäre Intervention" Ausdruck, indem er von der "sogenannten 'humanitären Intervention‘" sprach. Der Konsultationsprozess zeigte, dass andere dem Begriff genauso skeptisch gegenüberstehen. Viele Teilnehmer des Studienprozesses zögerten, über die "Ethik von 'humanitären Interventionen‘" zu diskutieren. Für sie bestand der wichtigste Beitrag der Kirchen darin, der Debatte eine neue Richtung zu geben, so dass deutlich wird, um welche grundsätzlichen ethischen Fragen es geht.

12. Historisch gesehen haben die intervenierenden Mächte insbesondere seit 1991 häufig den Begriff "humanitär" verwendet, um ihre Motivation zu charakterisieren und ihre Aktionen zu rechtfertigen. Tatsächlich sind, wie in den Dokumenten des Zentralausschusses des ÖRK wiederholt deutlich gemacht wurde, die Motive für die meisten Interventionen bestenfalls gemischt und dienen oft eher den eigenen Interessen der intervenierenden Mächte als den gefährdeten Bevölkerungsgruppen, die angeblich gerettet werden sollen.

13. Der Beschluss der Golfkrieg-Koalition unter Führung der USA, ihre Operationen aus "humanitären Gründen" auf die kurdischen Gebiete im Nord-Irak auszudehnen, gab Anlass zu Zweifeln bezüglich der Unterscheidung zwischen militärischen strategischen Interessen und den legitimen Bedürfnissen der gefährdeten Bevölkerung. Fast unmittelbar im Anschluss daran erfolgte die "humanitäre Intervention" in Somalia, die den Abbruch der von den Vereinten Nationen geförderten Schlichtungsversuche bedeutete. Die Debatte wurde noch kritischer, als 1994 die Friedenstruppen der Vereinten Nationen aus Ruanda abgezogen und die Menschen dem Völkermord ausgeliefert wurden. Der oft unzureichende Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg in Bosnien-Herzegowina und die spektakuläre NATO-Intervention im Kosovo schürten das Feuer noch weiter.

14. Das Wort "humanitär" hat einen besonderen Platz im humanitären Völkerrecht, wobei ihm die Attribute der Universalität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Humanität zugeschrieben werden. Es ist daran zu erinnern, dass die Entwicklung des humanitären Ideals keineswegs über Nacht erfolgte. Es vergingen über hundert Jahre zwischen der Zeit, als Henry Dunant auf den Schlachtfeldern von Solferino die Notwendigkeit einer unparteilichen humanitären Reaktion erkannte und anschließend das Rote Kreuz gründete, das die grundlegenden Prinzipien für humanitäre Aktionen kodifizierte. Humanitäre Hilfe muss den Menschen allein auf der Grundlage der Bedürftigkeit und unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit, Gesellschaftsschicht, Nationalität oder politischer Überzeugung gewährt werden. Besonders in der heutigen Welt starker Politisierung sollte der Gedanke, dass die Erfüllung humanitärer Bedürfnisse hohe Priorität hat, ein Ideal sein, das bewahrt und gegen fahrlässige oder dem eigenen Interesse dienende Anwendung geschützt werden muss.

15. Der Begriff "Intervention" hat ebenfalls unterschiedliche Konnotationen. In einigen Zusammenhängen denken die Menschen bei "Intervention" an die Aktionen von internationalen Finanzinstituten, transnationalen Unternehmen und mächtigen Staaten, die - oft gegen die Interessen der Menschen - nach Belieben in die inneren Angelegenheiten schwächerer souveräner Staaten eingreifen. Andere denken an die militärischen "Interventionen" starker ausländischer Mächte, die gewählte Regierungen stürzen oder demokratische Prozesse abbrechen. In anderen Zusammenhängen hat "Intervention" die positive Konnotation der Befreiung oder der nationalen Rettung von Gruppen der Zivilbevölkerung, die belagert werden oder in brutale Bürgerkriege verwickelt sind.

16. Den meisten Kirchen verursacht daher das Nebeneinander der Wörter "humanitär" und "Intervention" Unbehagen, da in der Praxis nur allzu oft ein Widerspruch zwischen den humanitären Grundsätzen des Mitleids und der Anwendung tödlicher militärischer Macht besteht.

17. Die Frage ist, welche Reaktion der Weltgemeinschaft auf Konfliktsituationen angemessen ist, in denen ganze Bevölkerungsgruppen gefährdet und die Regierungen entweder unfähig oder nicht bereit sind, sie zu schützen? Für die Kirchen in der ökumenischen Bewegung hat die Weltgemeinschaft die Pflicht zur Konfliktprävention, Friedensschaffung, Konfliktbeilegung und Versöhnung. Die Entscheidung, Waffengewalt in Situationen einzusetzen, in denen viele Menschen in Gefahr sind, ist häufig ein Signal dafür, dass die Weltgemeinschaft es versäumt hat, auf frühzeitige Anzeichen von Krisen die notwendigen vorbeugenden Maßnahmen zu ergreifen.

18. Statt des Begriffs "humanitäre Intervention" bietet sich in Diskussionen innerhalb des Ökumenischen Rates der Kirchen die alternative Formulierung "Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt" an.

19. Maßnahmen für diesen Zweck müssen im Rahmen einer langfristigen Strategie geplant und ausgeführt werden, die bei lokalen Maßnahmen zur Konfliktbereinigung beginnen und über diplomatischen Druck und wirtschaftliche Sanktionen bis zum Einsatz einer internationalen Schutztruppe führen können. Der "Brahimi-Bericht" stellt ein wichtiges Korrektiv zu vielen derzeit praktizierten friedenserhaltenden Maßnahmen dar; er enthält präventive und friedenschaffende Maßnahmen sowie "eine konzeptionelle Veränderung hin zum Einsatz ziviler Polizei und damit in Zusammenhang stehenden rechtsstaatlichen Elementen für Friedensoperationen, die den Teamgedanken für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Achtung der Menschenrechte hervorheben und den Gemeinschaften helfen sollen, Konflikte zu überwinden und zu nationaler Versöhnung zu finden; ... Abrüstungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramme." Der Bericht stellt jedoch die Notwendigkeit einer Doktrin für die Friedenserhaltung und eindeutiger Mandate heraus, wobei die "Zustimmung der Parteien vor Ort, Unparteilichkeit und der Einsatz von Zwangsmitteln nur zur Selbstverteidigung die Grundbedingungen sind." Der Bericht enthält die Empfehlung, dass die eingesetzten Kräfte "fähig sein müssen, sich selbst, andere Elemente der Mission und das Mandat der jeweiligen Mission zu verteidigen. Die Verfahrensregeln sollten robust genug sein, um die Kontingente der Vereinten Nationen nicht zu zwingen, ihren Angreifern die Initiative zu überlassen."3

20. Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt erfordert häufig "entschlossene" Aktionen, um die Gräueltaten zu beenden und Recht und Ordnung wiederherzustellen; danach müssen sie jedoch darüber hinaus die materiellen, politischen und zivilen Grundlagen des Landes wieder aufbauen, friedenschaffende Verfahren und Mechanismen zur Beilegung des Konflikts einrichten und für die Versöhnung der Gesellschaft Sorge tragen. Es muss auch selbstverständlich sein, dass verschiedene Organisationen und unterschiedliches Personal herangezogen werden, um die einzelnen Phasen des Prozesses umzusetzen.

Die Verantwortung der Weltgemeinschaft für Konfliktprävention

21. Zuallererst hat die Weltgemeinschaft (zu der auch Regierungen, zwischenstaatliche Organisationen, internationale Finanzinstitute, transnationale Unternehmen, Massenmedien und die Zivilgesellschaft gehören) die Pflicht, sich mit den Ursachen der gewaltsamen Konflikte zu befassen. Sie muss, sobald Konflikte entstehen, rechtzeitig wirksame Maßnahmen ergreifen, um eine Eskalation zu verhindern. Die Kirchen sind häufig besonders gut in der Lage, in ihren Gemeinschaften die Gefahrensignale zu erkennen und zu geeigneten Maßnahmen aufzurufen, bevor die Konflikte in Gewalt umschlagen. In einigen Fällen führen diese Frühwarnsysteme dazu, dass die Kirchen oder die gesamte internationale Gemeinschaft wirksame vorbeugende Maßnahmen ergreifen können. Nur allzu häufig versäumt es indessen die Weltgemeinschaft -- wie auch die Kirchen -- in der Zeit, in der die Konflikte noch gewaltlos zu beeinflussen sind, wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Kirchen sprechen in diesem Zusammenhang häufig vom kairos, vom Erkennen des geschichtlichen Augenblicks, in dem der Glaube die Christen zum Handeln zwingt.

22. Mit Hilfe des Programms des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Überwindung von Gewalt haben die Kirchen ein schärferes Bewusstsein dafür gewonnen, dass Konfliktprävention mit der Schaffung von Kulturen des Friedens einhergeht, in denen metanoia, -- ein Wandel des Herzens -- und das Bemühen um Versöhnung zur Umwandlung des Konflikts beitragen, und diese Alternative steht für Christen vor der lex talionis -- dem Auge um Auge und Zahn um Zahn. Dieser Ansatz verlangt zugleich das langfristige Engagement für Aufgaben wie Gemeinwesenbildung, Friedenserziehung, staatsbürgerliche Erziehung, Wahlüberwachung, den Dialog zwischen den Religionen und die Bewusstseinsbildung für den Schutz der Menschenrechte, bei denen die Kirchen eine besondere Rolle spielen können und müssen.

Straffreiheit, Wahrheit und Versöhnung

23. Nach der Beilegung von Konflikten muss die Weltgemeinschaft sich darum bemühen, ein Wiederaufflammen zu verhüten und in Ländern, die das Trauma des Krieges erlebt haben, für Frieden und Stabilität sorgen. Auch hier haben Kirchen häufig eine gute Ausgangsposition, um die Einhaltung der Friedensverträge zu überwachen und die gesamte internationale Gemeinschaft zu alarmieren, wenn neue Probleme entstehen.

24. In der Zeit nach Beendigung eines Konflikts besteht die Herausforderung darin, der Straffreiheit dadurch ein Ende zu setzen, dass diejenigen, die Gewalt angewendet haben, vor Gericht gestellt werden. Nicht nur sind die einzelnen Anführer zur Verantwortung zu ziehen, sondern es müssen auch Gremien wie der Internationale Strafgerichtshof geschaffen werden, mit deren Hilfe dem Grundsatz der Rechenschaftspflicht in Theorie und Praxis Geltung verschafft werden kann. Die Kirchen können zusammen mit anderen Mitgliedern der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle spielen in diesem Prozess, der höchst vielschichtig und oft schmerzlich sein kann -- wie es bei der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission deutlich wurde, die hier Pionierarbeit leistete, und auch bei den Versuchen, den chilenischen General Augusto Pinochet für die unter seiner Herrschaft begangenen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Kirchen haben die seelsorgerliche Aufgabe, den Heilungsprozess in ihrer Gesellschaft dadurch zu fördern, dass sie die Menschen ermutigen, über ihre Erinnerungen zu sprechen, indem sie darauf hinarbeiten, eine kollektive Geschichte des Konflikts zu schreiben, und indem sie Vergebung und Versöhnung predigen. ÖRK-Studien aus den letzten Jahren haben gezeigt, wie ausserordentlich wichtig diese Arbeit für die Versöhnung ist. Dies zeigt sich daran, dass der Zentralausschuss der Rolle der Kirchen bei der Versöhnungsarbeit Priorität eingeräumt und sie zu einem der Schwerpunkte der Dekade zur Überwindung der Gewalt gemacht hat.

25. Sobald ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde und sobald die Fernsehkameras sich auf andere Krisen gerichtet haben, tendiert die Weltgemeinschaft -- wie auch die Kirchen -- dazu, der Situation nach Beendigung des Konflikts weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Aber der Friede ist ein anfälliger Prozess, der ständiger Aufmerksamkeit und Pflege bedarf, um zu gedeihen und zu wachsen. Wenn es zu Ungerechtigkeiten bei der Umsetzung der Friedensabkommen kommt und wenn keine echte Versöhnung stattfindet, dann wird die Saat für zukünftige Konflikte gesät. Versöhnung ist daher sowohl ein Mittel, um weitere Gewalt in Zukunft zu verhüten, als auch die Grundlage für den Aufbau von Gesellschaften, in denen ausschließlich gewaltlose Mittel angewandt werden, um die zwischen sozialen Gruppen entstehenden unvermeidlichen Konflikte beizulegen.

Wenn die Prävention scheitert

26. Allerdings sind in einer sündigen Welt mit ihrer Neigung zur Gewalt die Kirchen und die Weltgemeinschaft selbst bei bestem Willen wohl nicht in der Lage, alle gewaltsamen Krisen zu verhüten. Wenn eine Krise eingetreten ist, stehen eine Reihe von gewaltlosen Reaktionen auf bewaffnete Konflikte zur Verfügung, und diese müssen erprobt werden:

Informationsbesuche, Diplomatie und Angebot von Vermittlungsdiensten für eine Schlichtung; Bereitstellung von humanitärer Hilfe zwecks Vertrauensbildlung zwischen den Parteien; Schutz der Menschenrechte durch eine Reihe von Maßnahmen einschliesslich der Ernennung von Sonderberichterstattern und Bereitstellung von technischen Diensten.

Entsendung von pastoralen Delegationen, Weiterleitung von Informationen aus den betroffenen Regionen, Abgabe öffentlicher Stellungnahmen zwecks Klärung der Konflikte, Entsendung internationaler Beobachter zum Schutz der gefährdeten Bevölkerung, auf verschiedenen Ebenen Fürsprache für friedliche Lösungen, und Zusammenbringen von Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften der verschiedenen Seiten des Konflikts, um gemeinsam Zeugnis für den Frieden abzulegen.

27. Wenn eine Regierung alle Hilfsangebote für die Beilegung eines Konflikts ablehnt oder sich weigert, Entscheidungen der zuständigen internationalen Gremien, wie des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu befolgen, können gemäß Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen Sanktionen verhängt werden: "Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen." Im oben erwähnten Dokument über Sanktionen (1995) sagte der Zentralausschuss:
"Sanktionen sind ein wichtiges Instrument, um dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen und Konflikte friedlich beizulegen. ...

Diplomatische Sanktionen haben in der Geschichte der internationalen Beziehungen eine lange Tradition. Sie umfassen die Anerkennung bzw. Nichtanerkennung eines anderen souveränen Staates und den Abbruch diplomatischer Beziehungen als Zeichen der Missbilligung des Verhaltens eines anderen Staates. Diplomatische Sanktionen, die mit dem Angebot einer Anerkennung oder Erweiterung von Privilegien verbunden sind, können für einen Staat einen starken Anreiz darstellen, sein Verhalten zu ändern. ...

Unter Wirtschaftssanktionen fallen beispielsweise die Einschränkung von Reiseverkehr und Informationsübermittlung, Handel und Dienstleistungen, Investitionen und anderen finanziellen Transfers, des Exports bestimmter Güter wie Waffen und strategischem Material, und schließlich die Einschränkung des kulturellen Austauschs. Auch diplomatische Sanktionen haben häufig wirtschaftliche Auswirkungen."

28. Bei konsequenter Anwendung müsste dieses Spektrum gewaltloser Aktionen, die von leichten bis zu starken Zwangsmaßnahmen reichen, in den meisten Situationen, in denen das Leben oder das Wohlergehen der Zivilbevölkerung bedroht ist, eigentlich ausreichen. In der Praxis war die Weltgemeinschaft aber selten in der Lage, derartig konsequent zu reagieren. Die Frühwarnindikatoren machen in manchen Fällen die Dringlichkeit der Situation nicht deutlich. Noch häufiger kommt es vor, dass die frühen Warnzeichen entweder ignoriert oder von der Weltgemeinschaft, die heute in einem nie gekannten Maße mit vielschichtigen internen Konflikten bereits überlastet ist, nicht beachtet werden. Viele Regierungen weigern sich, sich an Verhandlungen zur Beendigung eines Konflikts zu beteiligen, und sind nicht bereit, der Weltgemeinschaft zu erlauben, gefährdeten Bevölkerungsgruppen auf ihrem Hoheitsgebiet zu helfen. Es kommt immer häufiger vor, dass Staaten zusammenbrechen und nicht mehr in der Lage sind, Schutz zu bieten. Nur allzu oft führt das Scheitern des Versuchs, die unterschiedlichen Standpunkte nach Beendigung des Konflikts miteinander zu versöhnen, zum erneuten Ausbruch der Gewalt. In solchen Fällen hat die Weltgemeinschaft das Recht -- oder sogar die Pflicht --, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um die gefährdete Bevölkerung zu schützen und ihr zu helfen.

Souveränität und Völkerrecht

29. Dies kann einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten notwendig machen. Grundprinzipien des Völkerrechts und der Menschenrechte setzen dem jedoch enge Grenzen.

30. Der Grundsatz der nationalen Souveränität ist seit dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648 ein Eckstein des internationalen Systems. Trotzdem haben in der Geschichte die Militärmächte ihre militärischen Eingriffe in die inneren Angelegenheiten anderer Länder immer wieder mit "humanitären" Anliegen gerechtfertigt. Angesichts dieser Tatsache und vor dem Hintergrund zweier verheerender Weltkriege versuchten die Autoren der Charta der Vereinten Nationen, schwächere Staaten vor Aggression zu schützen, indem sie den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staats festlegten. Staaten, die erst seit kurzer Zeit die Unabhängigkeit erlangt hatten, wachten eifersüchtig über dieses Prinzip, um weitere Interventionen durch koloniale oder neokoloniale Mächte möglichst zu verhindern.

31. Artikel 2 (7) der Charta verbietet jede Intervention durch die Vereinten Nationen "in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören". Die einzigen Ausnahmen stehen in Artikel 51, der die Anwendung von Gewalt zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung erlaubt, und in Kapitel VII, in dem die Anwendung von Gewalt unter streng begrenzten Bedingungen erlaubt wird, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.

32. Die ökumenische Bewegung hat diese Grundsätze im Laufe der Jahre konsequent verteidigt, da sie überzeugt ist, dass die Unabhängigkeit von Staaten und ihre territoriale Unversehrtheit für den Frieden und die Sicherheit von entscheidender Bedeutung sind. Das grundlegenden Recht eines Staates, seine Unabhängigkeit zu wahren und sich zu verteidigen, ist ein Fundament des internationalen Rechtssystems, das bewahrt werden muss. Dieses Recht wird heute von einer der negativen Auswirkungen der Globalisierung bedroht, nämlich der Tatsache, dass viele Staaten immer weniger in der Lage sind, sich gegen unzulässige äußere Einmischungen in ihre inneren Angelegenheiten zu wehren.

33. In den letzten zehn Jahren hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in mehreren Fällen Interventionen mit dem Argument gerechtfertigt, dass schwere Verletzungen der Menschenrechte, die von einem Staat gegenüber seinen eigenen Bürgern begangen werden, eine Bedrohung des Friedens darstellten (Resolution 688/91). In Resolution 794 vom 3. Dezember 1992 steht, dass "das Ausmaß der durch den Konflikt verursachten menschlichen Tragödie" in Somalia eine Bedrohung des Friedens im Sinne des Artikels 39 der Charta darstellt. In Resolution 841 vom 16. Juni 1993 entschied der Sicherheitsrat im Falle Haitis ebenfalls, dass eine Regierungsform, die nicht mit demokratischen Grundsätzen vereinbar ist, eine Bedrohung des Friedens nach Artikel 39 darstellt.

34. Zwar stellte der Sicherheitsrat zweimal fest, dass die Situation im Kosovo eine Bedrohung des Friedens darstellt, aber er genehmigte keine militärischen Maßnahmen. Trotzdem wandte die NATO 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien militärische Gewalt an und rechtfertigte dies als aus "humanitären" Gründen erforderlich, um die Rechte bedrohter Minderheiten in der Provinz Kosovo zu schützen. Der ÖRK und viele seiner Mitgliedskirchen sowie Gremien der weltweiten christlichen Gemeinschaften protestierten mit grösstem Nachdruck gegen dieses Vorgehen, das sie als Verletzung der Intentionen der UN-Charta betrachteten.

35. Die jüngsten Reaktionen auf humanitäre Krisen -- sowohl das Handeln als auch das Nicht-Handeln -- werfen viele Fragen auf, und zwar in Bezug auf das Völkerrecht und in Bezug auf die allgemeineren ethischen Implikationen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, wies in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 1999 auf dieses zentrale Dilemma hin, wobei er konkrete Beispiele anführte:

"Denjenigen, für die die größte Bedrohung der zukünftigen internationalen Ordnung in der Anwendung von Gewalt ohne ein Mandat des Sicherheitsrates besteht, kann man-- nicht im Zusammenhang mit dem Kosovo, sondern mit Ruanda - folgende Fragen stellen: Wenn in jenen dunklen Tagen und Stunden im Vorfeld des Völkermords eine Koalition von Staaten bereit gewesen wäre, die Tutsi-Bevölkerung zu verteidigen, jedoch die Genehmigung des Rates nicht umgehend erhalten hätte, hätte diese Koalition dann dem schrecklichen Geschehen passiv zusehen sollen?

Denjenigen, für die die Kosovo-Aktion eine neue Ära eingeleitet hat, in der Staaten und Gruppen von Staaten militärische Maßnahmen außerhalb der regulären Verfahren zur Durchsetzung des Völkerrechts ergreifen können, kann man die Frage stellen: Besteht nicht die Gefahr, dass solche Interventionen das nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene, zwar unvollkommene, aber widerstandsfähige Sicherheitssystem unterminieren könnten und dass damit gefährliche Präzedenzfälle für zukünftige Interventionen geschaffen werden, ohne dass es klare Kriterien für die Entscheidung gibt, wer sich unter welchen Umständen auf diese Präzedenzfälle berufen kann?4

36. Die Charta der Vereinten Nationen begrenzt die Befugnis der Organisation zur Intervention zwar streng auf Fälle, in denen der Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährdet werden, bekräftigt aber auch die Universalität der Menschenrechte. Rechtsexperten weisen darauf hin, dass das Völkerrecht nicht statisch ist, sondern sich in einem ständigen Entwicklungsprozess befindet. Einige dieser Entwicklungen könnten ein neues Licht auf die absolute Geltung des Grundsatzes der Nichteinmischung werfen. Tatsächlich waren im vergangenen Jahrhundert die Entwicklung des Völkerrechts und der Reflexion darüber von der Entwicklung und Akzeptanz universaler Menschenrechtsnormen geprägt, auch wenn es noch keine allgemein akzeptierten Verfahren gibt, um die Regierungen für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen. In dem vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen verfassten Human Development Report für das Jahr 2000 heißt es: "Die Menschenrechte - in einer integrierten Welt -- verlangen weltweite Gerechtigkeit. Das auf den Staat bezogene Modell der Rechenschaftspflicht muss erweitert werden und auch die Pflicht nicht-staatlicher Akteure und staatliche Pflichten über die nationalen Grenzen hinaus umfassen."5

37. Die Kirchen beteiligen sich schon seit langem an der Entwicklung von internationalen Menschenrechtsnormen. So heißt es in der von der Achten Vollversammlung des ÖRK in Harare, Simbabwe, im Dezember 1998 verabschiedeten Erklärung zu den Menschenrechten:

"Wir bekräftigen erneut die Universalität der in der internationalen Menschenrechtscharta niedergelegten Menschenrechte sowie die Pflicht aller Staaten, sie ungeachtet ihrer Kultur und ihres wirtschaftlichen und politischen Systems zu fördern und zu schützen. Diese Rechte wurzeln in der Geschichte von Kulturen, Religionen und Traditionen, und zwar nicht lediglich jener Staaten, die zur Zeit der Annahme der Allgemeinen Menschenrechtserklärung eine führende Rolle in den Vereinten Nationen spielten. Wir anerkennen, dass diese Erklärung als "gemeinsamer Standard" angenommen wurde und dass bei der Anwendung ihrer Grundsätze dem jeweiligen geschichtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext Rechnung zu tragen ist. Wir lehnen jedoch jeglichen Versuch von Staaten und nationalen oder ethnischen Gruppen ab, die Außerkraftsetzung oder Einschränkung der Menschenrechtsbestimmungen im Namen von Kultur, Tradition oder besonderen sozio-ökonomischen oder Sicherheitsinteressen zu rechtfertigen."
38. Es gibt jedoch selbst hier keine Prinzipien mit absoluter Geltungskraft. Regierungen in einigen Teilen der Welt, besonders in Asien, stellen die Universalität der Menschenrechtsnormen in Frage, und zwar mit der Begründung, sie beruhten auf westlichen Vorstellungen von Individualrechten, nicht auf den Rechten der Völker. Innerhalb der orthodoxen Tradition der Christenheit wird zuweilen das ausschließliche Bemühen um das irdische Leben in Frage gestellt und der Primat der Erlösung hervorgehoben. Zwar ist alles Leben heilig, so wird argumentiert, aber auch heilige Orte, Gegenstände der Verehrung und sogar Land werden von der Glaubensgemeinschaft als heilig betrachtet, und ihr Schutz kann in einigen Situationen Vorrang haben. Es wird auch gefragt, welche Arten von Menschenrechtsverletzungen so schwerwiegend sind, dass sie eine Intervention rechtfertigen. Soll die Weltgemeinschaft nur als Reaktion auf Verletzungen der bürgerlichen und der politischen Rechte handeln, oder verlangen auch Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte eine internationale Antwort?

39. Die Konvention zum Völkermord ist ein besonderer Fall, in dem die Weltgemeinschaft erkannt hat, dass es Grenzen der nationalen Souveränität gibt und dass die Weltgemeinschaft eine Pflicht zum Handeln hat, wenn es darum geht, Völkermord zu verhindern. Die Frage der Intervention steht also in einem Spannungsfeld zwischen nationaler Souveränität und einem sich entwickelnden Bewusstsein für die universale Natur der Menschenrechte. Dies sind nicht nur Fragen des Völkerrechts, es sind auch ethische Fragen, zu denen die theologischen Perspektiven der Kirchen viel beitragen können.

Schaffung eines gerechten Friedens: Ein christlicher Ansatz

40. Bevor einige der ethischen Dimensionen von Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt betrachtet werden, sollen die biblischen Gebote zur Schaffung eines gerechten Friedens, wie sie im Dokument Memorandum und Empfehlungen zur Verhängung und Anwendung von Sanktionen des Zentralausschusses zum Ausdruck kommen, in Erinnerung gerufen werden.

41. Die christlichen Gebote der Gerechtigkeit und des Friedens sind konkret in dem prophetischen Erbe der Heiligen Schrift und im Versöhnungsamt Jesu Christi verankert.

42. Gerechtigkeit und Frieden sind zentrale Begriffe des Evangeliums von Jesus Christus. Die vollkommene Verwirklichung eines gerechten Friedens übersteigt die Möglichkeiten des Menschen, doch liegt sie in der Macht des allmächtigen Gottes der Liebe, der in einem Bund des Friedens eine einzige, unteilbare menschliche Familie erschaffen hat. Vor seinem Antlitz kommen und gehen die Völker, doch die Verheißung des Schalom, der Liebe, welche Frieden und Gerechtigkeit miteinander verbindet, währt ewig.

43. Jedes Mitglied von Gottes Familie ist nach Gottes heiligem Bild geschaffen und hat Anspruch auf ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Wohlergehen. Daraus folgt, dass jeder Mensch eine von Gott gegebene Würde genießt, aus der sich die Grundsätze der Menschenrechte ableiten, die von allen Menschen und Regierungen geachtet und geschützt werden müssen. Wenn wahrer Friede und echte Sicherheit verwirklicht werden sollen, dann kann nur ein solches Konzept der Gerechtigkeit die Anwendung von Interventionen rechtfertigen.

44. Gott hat uns für unser Zusammenleben menschliche Gemeinschaften gegeben, die ihrerseits Institutionen geschaffen haben, um sie zu regieren. Regierungen sind nicht nur für Gerechtigkeit und Frieden innerhalb ihrer Grenzen und für den Schutz vor Angriffen zuständig. Sie müssen auch zu Initiativen und zur Zusammenarbeit bereit sein, um einen gerechten Frieden unter allen Staaten aufzubauen. Die Unteilbarkeit von politischer Freiheit, gemeinsamer Sicherheit, Gleichstellung aller Bürger, wirtschaftlichem Wohlergehen und Erhaltung der Umwelt erfordert wirksame Instrumente für transnationales Handeln im Sinne einer Weltinnenpolitik. Solche Instrumente müssen der weltweiten Entwicklung, der Beilegung von Konflikten und der Überwindung von Gewalt dienen.

45. Das politische Handeln aller menschlichen Institutionen einschließlich der Regierungen muss den Schutz der Unschuldigen, der Armen, der Schwachen, der Minderheiten und der Unterdrückten gewährleisten; und zwar nicht nur innerhalb der eigenen Gesellschaft, sondern in jeder anderen Gesellschaft, die davon betroffen ist.

46. Unter der Herrschaft Gottes hat kein Staat und keine Gruppe von Staaten das Recht, gegen andere Rache zu üben. Ferner hat kein Staat das Recht, einseitige Urteile zu fällen oder einseitige Maßnahmen zu ergreifen, die zur Zerstörung eines anderen Landes führen und Leid und Verelendung für dessen Bevölkerung bedeuten. Wann immer ein Angriff oder massive und flagrante Menschenrechtsverletzungen durch einen Staat nach dem Völkerrecht eine Prävention oder Bestrafung erforderlich machen, dann sind konzertierte multilaterale und von den Vereinten Nationen oder einem anderen zuständigen internationalen Gremien genehmigte Maßnahmen am ehesten geeignet, zur Schaffung eines gerechten Friedens beizutragen.

47. Die jüngsten internationalen militärischen Einsätze, die in einigen Situationen als "humanitäre Intervention" durchgeführt wurden, sowie der Verzicht auf Intervention in anderen Situationen haben schwierige moralische und ethische Fragen aufgeworfen: Wie kann die Weltgemeinschaft Menschen in Krisen angemessen und konsequent auf eine Weise helfen, die allem menschlichen Leben gleichen Wert zumißt?

48. Dass es überhaupt notwendig ist, in internationalen Beziehungen die Anwendung von Waffengewalt in Erwägung zu ziehen, macht das Versagen der Weltgemeinschaft deutlich, der es nicht gelingt, rechtzeitig und angemessen zu reagieren, um einen Konflikt zu verhüten oder in seinen Anfangsstadien beizulegen. Eine unangemessene und inkonsequente Reaktion auf menschliches Leiden verschlimmert das moralische Versagen noch weiter. Die jüngsten Entscheidungen für massive bewaffnete Intervention sind vielfach von global agierenden öffentlichen Medien beeinflusst gewesen. Diese neigen dazu, selektiv über Krisen zu berichten, indem sie einige übertrieben darstellen und andere Fälle ignorieren, in denen genauso viele oder mehr Menschen unmittelbar bedroht sind. So wurde in den Medien beispielsweise zwar berichtet, dass die Kosovo-Krise gefährlich eskalierte, aber über gleichzeitig stattfindende Krisen in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten, die nach wie vor weit mehr Menschenleben fordern, wurde im Norden vergleichsweise wenig bekannt. Auch haben die Medien häufig die Verluste und das Leid mancher ethnischen Gruppen übertrieben dargestellt, während sie die anderer Gruppen weitgehend ignorierten. Einige Kritiker behaupten, dass die Selektivität dieser Medien ihre Wurzeln in rassischen, ethnischen oder politischen Vorurteilen hat und dass dies dazu beigetragen hat, dass die Weltgemeinschaft in Krisen, in denen einige wenige Europäer leiden, mit unverhältnismäßiger Waffengewalt reagiert, während sie Interventionen verweigert, wenn es darum geht, Nicht-Europäer zu retten, und dass sie viele Krisen im Süden völlig ignoriert, in denen noch viel mehr Menschen unmittelbar in Gefahr sind.

49. Für Christen muss die Schaffung eines gerechten Friedens immer durch unsere Treue zum Amt und zur Botschaft der Versöhnung geprägt sein. Die Verheißung der Versöhnung im Evangelium gründet auf unserem Glauben an den Dreieinigen Gott, der Mensch geworden ist in Jesus Christus, der unser Friede ist, der die uns trennenden Mauern der Feindschaft niederreißt und uns zu einer einzigen neuen Menschheit macht. Dieser Glaube verpflichtet uns, selbst unsere Feinde zu lieben. Die Schaffung eines gerechten Friedens verlangt, dass die Christen keine Zwangsmaßnahmen unterstützen, ob wirtschaftlicher oder militärischer Natur, solange nicht positive Versuche des Friedensschlusses unter den verfeindeten Parteien unternommen worden sind. Für die Christen muss das Ziel immer der Aufbau oder die Wiederherstellung von gerechten, friedfertigen und humanen Beziehungen sein.

50. Die Frage der Schaffung eines gerechten Friedens macht es für Christen ferner erforderlich, sich in einer Welt voller Ambivalenzen mit grundsätzlichen moralischen, ethischen und theologischen Fragen auseinanderzusetzen. Es stellt sich die Frage, ob -- vom ökumenischen christlichen Standpunkt aus betrachtet -- die Weltgemeinschaft selbst dann von der Anwendung von Waffengewalt Abstand nehmen sollte, wenn es darum geht, gefährdete Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt zu schützen oder diejenigen zu verteidigen, die von den zuständigen internationalen Instanzen zu diesem Zweck entsandt worden sind. Hier müssen konkurrierende moralische und ethische Werte berücksichtigt werden. Manche Christen sagen Ja, denn sie sind der Überzeugung, dass Jesus uns lehrt, jede Waffengewalt abzulehnen. Andere sagen Nein, weil sie der Meinung sind, dass der Schutz des menschlichen Lebens im Notfall den Einsatz von Waffen rechtfertigt, wobei sie jedoch anerkennen, dass jegliche diesbezügliche Entscheidung mit großer Demut zu treffen ist. Die Verantwortung für unbeabsichtigte Folgen muss sowohl von jenen akzeptiert werden, die sich für Waffengewalt entscheiden, als auch von jenen, die dies nicht tun.

51. Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein der Tatsache, dass die Christen mit Menschen anderen Glaubens und anderer Überzeugungen zusammenarbeiten müssen, um Antworten auf diese vielschichtigen Fragen zu finden, ist der Zentralausschuss im Kontext der Dekade zur Überwindung von Gewalt der Auffassung, dass die folgenden Erwägungen und Kriterien hilfreich sind für die weitere Reflexion und Diskussion in und unter den Kirchen sowie mit denjenigen, die sich gegenwärtig darum bemühen, einen klaren und wirksamen internationalen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen ein Großteil der Bevölkerung in unserer heutigen konfliktreichen Welt rechtzeitig und wirksam geschützt werden kann, so dass ihr Leben gerettet wird und sie die Möglichkeit haben, zum Aufbau von wirklich gerechten und friedfertigen Gesellschaften beizutragen.


ERWÄGUNGEN UND KRITERIEN FÜR DEN SCHUTZ GEFÄHRDETER
BEVÖLKERUNGSGRUPPEN IN SITUATIONEN BEWAFFNETER GEWALT

1. Erwägungen

Bei einer Intervention zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt besteht die Gefahr, dass zusätzliche Gewalt erzeugt wird, die der betroffenen Bevölkerung weiteres Leid zufügt.

1.1 Das Unterlassen von sofortigem und rechtzeitigem Handeln, einschließlich des Einsatzes der Anwendung von Waffen zur Selbstverteidigung in bestimmten schweren Krisen, kann jedoch ebenfalls zu weiterem massiven Verlust von Menschenleben führen.

1.2 Selbst im Falle des Schutzes gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt ist die Nichtachtung des Souveränitätsprinzips eine schwerwiegende Maßnahme, die ausschließlich unter gravierenden und außergewöhnlichen Umständen ergriffen werden sollte. Diese Praxis sollte nicht in Fällen angewendet werden, in denen Menschenrechte routinemäßig verletzt werden. Dort verfügt die internationale Gemeinschaft über eine Vielfalt von Menschenrechtsinstrumenten, die sie einsetzen kann, solange sie nicht physisch interveniert. Letzteres sollte ausschließlich unter gravierenden und außergewöhnlichen Umständen geschehen, wenn es notwendig wird, Menschen aus schwerer Not zu retten und sie zu schützen.

1.3 Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen müssen im Rahmen des Völkerrechts erfolgen. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat wiederholt seine Unterstützung des internationalen Rechtsstaatsprinzips und der Charta der Vereinten Nationen als wichtiger Rahmen für dessen Verteidigung und weitere Entwicklung bekräftigt.

1.4 Nach der Charta unterlassen "alle Mitglieder ... in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete ... Androhung oder Anwendung von Gewalt" (Artikel 2 (4)); allerdings kann der Sicherheitsrat beschließen, die Mitgliedstaaten aufzufordern, Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, zu ergreifen, um die Einhaltung seiner Entscheidung zu bewirken. Eine Intervention muss eindeutig darauf begrenzt sein, Nationen und Bevölkerungsgruppen vor unzulässigen Eingriffen zu schützen, und die Entscheidung zur Intervention muss der Notlage entsprechen - unabhängig davon, wo sie entsteht, ohne Unterschied und im Einklang mit der Charta.

1.5 Die Charta besagt allerdings auch, dass "die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion" für den internationalen Frieden von entscheidender Bedeutung ist (Artikel 55 c).

1.6 In der Praxis hat der Sicherheitsrat -- gemäß seiner gegenwärtigen Struktur, die seinen ständigen Mitgliedern ein Vetorecht einräumt -- nur selten einem Staat, einer Gruppe von Staaten oder "regionalen Einrichtungen" erlaubt zu intervenieren. Das hat zu Interventionen von regionalen Organisationen oder Gruppen von Staaten geführt, die die Bestimmungen der Charta mehr oder weniger eindeutig verletzt haben.

1.7 Zwar haben einige dieser bewaffneten Interventionen der gefährdeten Bevölkerung echte Erleichterung gebracht, aber andere haben zu unverhältnismäßigen Zerstörungen und fragwürdigen Ergebnissen geführt.

1.8 Es gibt verschiedene Reformvorschläge, um den Sicherheitsrat in die Lage zu versetzen, besser auf die sich verändernde Art der Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit reagieren zu können, und um die Entwicklung des Völkerrechts berücksichtigen zu können. Es ist heute unbedingt erforderlich, eine wirksamere Handlungsgrundlage für den Sicherheitsrat zu schaffen und/oder mit Zustimmung der Generalversammlung zusätzliche Instrumente innerhalb des Rahmens der Charta zu entwickeln, die - soweit wie möglich -- die Entscheidungen über den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt aus der parteiischen politischen Debatte heraushalten und eine rechtzeitige und rasche Intervention im Interesse von Bevölkerungsgruppen, denen Leben massiv bedroht ist, gewährleisten können.

1.9 Angesichts der heutigen Grenzen des internationalen Systems und der Realität von Interventionen und im Vorgriff auf die Schaffung neuer wirksamerer Instrumente könnten für diesen Aspekt der Reform der Vereinten Nationen die folgenden Kriterien als Orientierung dienen und in der Zwischenzeit -- bis zur Umsetzung einer solchen Reform -- befolgt werden, wann immer bewaffnete Interventionen für humanitäre Ziele durchgeführt werden.

2. Kriterien
2.1 Wann können Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt genehmigt werden?

Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen, der eine Intervention auf dem Territorium eines souveränen Staates erfordert, sollte auf die folgenden Situationen beschränkt werden:

2.1.1. Es bestehen nachweisliche akute oder lang anhaltende Bedrohungen von Menschenleben in einem Umfang, dass von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen werden kann, die von staatlichen Behörden oder anderen organisierten Kräften oder mit deren Duldung und Unterstützung begangen werden oder die begangen werden, weil die Behörden unfähig oder nicht bereit sind, solche Gräueltaten zu verhindern.

2.1.2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit resultieren aus anarchischen Zuständen in einem souveränen Staat, dessen Regierung oder Behörden nicht in der Lage sind, diese Verbrechen zu beenden und sich weigern, die Weltgemeinschaft anzurufen, oder deren Hilfsangebote ablehnen.

2.1.3. Je dringender und massiver die Bedrohung ist oder je offener die Gräueltaten begangen werden, desto dringlicher kann eine Intervention sein. Umgekehrt wäre eine Intervention im Falle einer sich langsam entfaltenden Krise, in der gewaltlose Methoden der Beilegung wirksam sein können, nicht angemessen.

2.2 Selbst wenn eine nachweisbare und massive Bedrohung von Menschenleben vorliegt, erfordert die Entscheidung für die Anwendung von Waffengewalt eine sorgfältige Abwägung und ausgewogene Reflexion. Die Entscheidungsträger müssen insbesondere die folgenden wesentlichen Fragen gründlich prüfen:
2.2.1 Wer entscheidet, ob die Anwendung notwendig ist?
2.2.2 Wer stellt die Kräfte zur Verfügung?
2.2.3 Wer ist für die Überwachung zuständig und welche Mittel, welche Art und welches Verhalten der Kräfte sind angemessen?
2.2.4 Welche Nebenwirkungen sind vorhersehbar?
2.2.5 Wann sollte eine solche Operation beginnen und wann sollte sie beendet werden?
2.3. Wer darf intervenieren?
2.3.1 Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt sollten grundsätzlich von einem geeigneten Gremium der Vereinten Nationen oder einer Gruppe von Staaten durchgeführt werden, die berechtigt sind, im Namen der Vereinten Nationen zu handeln; alle derartigen Maßnahmen sollten vom Sicherheitsrat oder mit Zustimmung der UN-Generalversammlung von einer anderen multilateralen internationalen Instanz streng überwacht werden.

2.3.2 Die zum Schutz intervenierenden Kräfte sollten hinsichtlich desjenigen Staates, in dem die Intervention stattfindet, eindeutig neutral sein, und die Entscheidung für die Intervention sollte auf keinen Fall als Vorwand für die Verfolgung der spezifischen eigenen Interessen der ausländischen Mächte dienen.

2.4. Welche Formen der Intervention sind gerechtfertigt?
2.4.1 Die spezifischen Ziele und Grenzen der Intervention sollten zuvor vereinbart und von dem für die Genehmigung zuständigen Gremium eindeutig definiert werden, und es sollte klar festgelegt werden, was notwendig ist, damit diese Ziele erreicht und die Kräfte abgezogen werden können.

2.4.2 Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt müssen als Teil einer mehrstufigen Herangehensweise und eines Kontinuums von Maßnahmen in einer gegebenen Krisensituation gesehen werden. Dazu gehören die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der grundlegenden Menschenrechte, die Rehabilitierung und der Wiederaufbau sowie die Friedensschaffung und Versöhnung in der Zeit nach Beendigung des Konflikts, die von zivilen Organisationen durchgeführt werden muss. Entsprechend sollten die Planung und die Überwachung sich nicht nur auf einen dringenden Notfall erstrecken, sondern weiterreichende Ziele und die Mobilisierung der für ihre Erreichung erforderlichen Ressourcen einbeziehen.

2.4.3 Da eine Maßnahme zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in einer Situation bewaffneter Gewalt sich von einem Krieg unterscheidet, sollten Polizei und Militär sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene an die neuen Konzepte und Techniken im Zusammenhang mit der Vorstellung von "menschlicher Sicherheit" herangeführt werden. Diese Ausbildung sollte sich auch auf gewaltlose Interventionstechniken erstrecken, bei denen die organisatorischen und logistischen Fähigkeiten und die Befehlsstrukturen des Militärs in vollem Umfang genutzt werden.

2.4.4 Zwar ist eine Intervention definitionsgemäß eine Zwangsmaßnahme, aber es darf nur so viel defensive Gewalt angewendet werden, wie mit den Zielen vereinbar und wie erforderlich ist, um die gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu schützen und den betroffenen Staat in die Lage zu versetzen und/oder zu verpflichten, seiner eigenen Verantwortung nachzukommen.

2.4.5 Der Einsatz von bewaffneten Polizeikräften ist oft ausreichend, um den erforderlichen Schutz zu gewährleisten. Wenn der Einsatz des Militärs für notwendig gehalten wird, um die Ziele zu erreichen, sollte er auf dasjenige Maß begrenzt werden, das absolut erforderlich ist, um die Ordnung wiederherzustellen oder einen sicheren humanitären Raum zur Verfügung zu stellen.

2.4.6 Die Verfahrensregeln für die Kräfte, die für den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden, müssen mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar sein und die Immunität von Nichtkombattanten sowie die Pflicht, sie zu schützen, respektieren.

2.4.7 Wenn Schutzmaßnahmen erforderlich sind, um die Sicherheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von anerkannten zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen humanitären Organisationen zu gewährleisten, die an der Lieferung von wichtigen Hilfsgütern für die gefährdeten Bevölkerungsgruppen beteiligt sind, dann muss klar zwischen der Rolle der Zivilisten bei der humanitären Hilfeleistung und der unterstützenden Rolle der Polizei und des Militärs unterschieden werden. Alle Beteiligten müssen eindeutig definierte und vereinbarte Funktionen und Befehls- und Management-Strukturen haben, und die Kräfte sollten abgezogen werden, sobald die Voraussetzungen für ein effizientes Funktionieren der strikt humanitären Komponente geschaffen sind. Die humanitären Einrichtungen, einschließlich der mit der Kirche verbundenen Organisationen, sollten sich streng an die etablierten internationalen Verhaltenskodizes halten.

2.5. Wer ist für die Überwachung zuständig?

Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen sollten grundsätzlich unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen erfolgen und vom Sicherheitsrat mit Unterstützung des Generalsekretärs überwacht werden. Diese Überwachung umfaßt die Durchführung von Operationen, die Beurteilung des im Hinblick auf das definierte Ziel erzielten Fortschritts und die Festlegung der Dauer der einzelnen Phasen und des Zeitpunkts, zu dem die Operationen entweder beendet oder in ein längerfristiges Programm überführt werden sollten. Der Internationale Gerichtshof und andere völkerrechtliche Instanzen könnten prüfen und entscheiden, ob eine Intervention legitim ist und ob sie die völkerrechtlichen Normen einhält.

3. Die Rolle der Kirchen
3.1. In dem Kontinuum von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt können die Kirchen in allen Phasen eine wichtige Rolle spielen - als frühzeitige Warner vor möglichen Gefahren für die Zivilbevölkerung; als Wegbereiter von Frieden und Versöhnung in dem Bemühen, Krisen durch Vermittlung zu vermeiden; als Gremien, die bei Entscheidungen über die Verfahrensregeln zu konsultieren sind; bei der seelsorgerlichen Begleitung von gefährdeten Frauen, Männern und Kindern; bei der Leistung humanitärer Hilfe und bei den in der Zeit nach Beendigung des Konflikts relevanten Aufgaben der Rehabilitierung, des Wiederaufbaus und der Friedensschaffung, sowie auch bei der kontinuierlichen Überprüfung der vorliegenden Kriterien zusammen mit allen beteiligten Parteien.

3.2. Die Kirchen, die sich in der Krisensituation befinden, sind die wichtigsten Ansprechpartner. Sie sollten von den Kirchen und den mit der Kirche verbundenen Organisationen im Ausland in allen Phasen konsultiert werden, wenn entschieden werden muss, welche ökumenischen Maßnahmen erforderlich sind. Und sie sind die Hauptakteure bei der Leistung humanitärer Hilfe und bei den nach Beendigung des Konflikts erforderlichen Maßnahmen.

3.3. Umfassende internationale Solidaritätsmaßnahmen sind von wesentlicher Bedeutung, um die Anwendung von Gewalt zu begrenzen und, wenn notwendig, zu überwachen.

3.4. Bei all diesen Bemühungen sollte jede Möglichkeit genutzt werden, um den Kontakt unter den Kirchen sowohl auf nationaler als auch auf regionaler und weltweiter Ebene aufrechtzuerhalten und um sicherzustellen, dass -- wann immer dies sinnvoll und möglich ist -- hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen eine Zusammenarbeit mit anderen Glaubensgemeinschaften und Handlungsträgern der Zivilgesellschaft erfolgt, die sich zusammen mit den christlichen Gemeinschaften in Krisensituationen befinden.

Notes:
  1. Dok. C-11, Ausschuss der Einheit III, ÖRK-Zentralausschuss, Johannesburg 1994
  2. Bericht über das Podiumsgespräch über die UNO-Friedensoperationen, Vereinte Nationen, Doc. A/55/305 oder S/2000/809
  3. Brahimi-Report, S. x
  4. Pressemitteilung der Vereinten Nationen SG/SM/7136 GA/9596 vom 20. September 1999. Übersetzung des Zitats: Sprachendienst des ÖRK.
  5. Human Development Report 2000, United Nations Development Program, New York, Oxford Press. S. 9. Übersetzung des Zitats: Sprachendienst des ÖRK.

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