Nr. 1 - März 1999 |
Liebe Freundinnen, liebe Freunde!
Seit Jahrzehnten dient dieser dem Gespräch gewidmete Brief mit dem Namen
Ökumenischer Brief über Evangelisation dem Gedankenaustausch
über Evangelisation aus ökumenischer Sicht. Sein besonderes Kennzeichen war
bisher meiner Ansicht nach die Art und Weise, in der die Autoren des Briefes auf die
vielfältigen Vorstellungen von Evangelisation und die Anliegen und Probleme in diesem
Bereich eingegangen sind und dabei ihre persönlichen Überzeugungen eingebracht
haben. Und wenn sie uns zum Nachdenken über das eine oder andere Thema angeregt
haben, haben sie immer auch - von Brief zu Brief - etwas von sich selbst vermittelt, und es war
zu spüren, daß sie bereit waren, für ihre Auffassungen einzustehen.
In den letzten Jahren hat Pfr. Samuel Ada, mein Vorgänger als ÖRK-Referent
für die Zusammenarbeit mit den Kirchen in Fragen der Evangelisation, diese Tradition in
der ihm eigenen gewinnenden und umsichtigen Art fortgesetzt. Die von Sam herausgegebenen
Briefe haben - insbesondere zu Themen wie dem gemeinsamen Zeugnis und den Aspekten der
ökumenischen Studie über Evangelium und Kulturen - große Beachtung
gefunden. Wenn ich diese Aufgabe jetzt übernehme, möchte ich Sam den Dank
der Leserschaft des Ökumenischen Briefes über Evangelisation für
seine zutreffenden Gedanken zu diesem Thema aussprechen und würdigen, daß er
mit diesem Brief eine geeignete Kontaktstelle für ein Netzwerk für
Evangelisation geschaffen hat.
Für diejenigen, die mich noch nicht kennen, möchte ich einige Worte zu meiner
Person sagen: Ich heiße Ana Langerak und stamme aus Costa Rica. Ich bin das eher
gelungene Produkt dreier Kulturen und vereinige in mir eine Mischung von Erfahrungen aus
Ausbildung und Arbeit in Bereichen wie Mission und Evangelisation, Lehre, Fürsprache
und Funktionen in ökumenischen Organisationen und Programmen. Ich kann mit Fug
und Recht von mir sagen, daß ich mir von Kindheit an meiner christlichen Berufung
bewußt war und daß mich dies auf meinem Weg durch unterschiedliche Kontexte
(Westeuropa, USA und Lateinamerika) dazu gebracht hat, meinen Glauben in der
Spiritualität des Mitleidens und der Befähigung in Situationen der
Ungerechtigkeit zu leben. Ich empfinde es als Segen, daß ich während des
Bürgerkrieges in Nicaragua dort als Missionarin tätig sein konnte und in der
Lutherischen Kirche von Costa Rica nach Jahren der "Unabhängigkeit" ordiniert
worden bin.
Beim ÖRK habe ich nun mein drittes Aufgabengebiet übernommen: Mitglied des
Teams für Mission und Evangelisation mit besonderer Zuständigkeit für
den evangelistischen Auftrag der Kirchen. Ich sehe meine Aufgabe in erster Linie darin, -
zusammen mit den Kirchen, anderen Partnern und Kollegen - die unermeßlichen
Energien, Herausforderun-gen, Hoffnungen und Ressourcen für die Evangelisation zu
bündeln und sichtbar werden zu lassen, damit wir gemeinsam Wege entdecken, wie wir
das Evangelium glaubwürdig bezeugen können.
In diesem Brief möchte ich mich zum Thema Evangelisation und Frauen
äußern. Der Gedanke dazu hat zwei Ursachen. Die eine, eine negative, ist die
irritierende Vorstellung, daß Evangelisation und Frauenfragen eigentlich nichts
miteinander zu tun hätten oder sogar miteinander im Widerstreit lägen. Die
andere, positive, ist der Wunsch, Evangelisation als einen Dienst zu verstehen, der sich der
gebrochenen Herzen, der Verzweiflung von Frauen annimmt und dabei zu einem Glied in
der
Kette der Liebe wird, die für die Ganzheit, für das Heil der Welt eintritt.
Wer hat nicht schon den Vorwurf gehört, Evangelisation sei ein subtiles (wenn nicht
sogar ein aggressives) Mittel, Frauen zu domestizieren? Ebenso, wie die Evangelisation in den
letzten Jahren aufgrund der Rolle kritisiert wurde, die sie bei der Unterdrückung
einheimischer Kulturen gespielt hat, und weil sie den Urvölkern Denkweisen und
religiöse Praktiken aufgezwungen hat, die ihnen fremd sind, wird die Evangelisation
heute bezichtigt, Frauen ihren legitimen Interessen zu entfremden. Evangelisation, so wird
behauptet, sei abzulehnen, weil sie der Aufrechterhaltung patriarchalischer Strukturen in
Kirche und Gesellschaft und damit hauptsächlich dazu diene, "Frauen in ihre Schranken
zu verweisen".
Darüber hinaus vertreten gewisse Kreise die Auffassung, die Förderung der Sache
der Frauen stehe im Gegensatz zu der Berufung der Kirchen, die Frohe Botschaft zu
verkündigen. Die Probleme und Bestrebungen von Frauen und Evangelisation werden
als ganz verschiedene Dinge betrachtet. Es ist ermutigend, daß sich eine ganze Anzahl
von Kirchen tatkräftig daran gemacht hat, die Fehler der Evangelisation in der
Vergangenheit und in der Gegenwart aufzuarbeiten. Zu Recht gehören zu diesen
Bemühungen auch Buße und Wiedergutmachung an den Urvölkern.
Vielleicht lassen sich auf diese Weise Spannungen abbauen. Die Wechselbeziehung zwischen
Frauenanliegen und Evangeli-sation bleibt indessen problematisch. Lassen Sie mich an einigen
Beispielen darstellen, wie sich solche Spannungen äußern:
Es gibt natürlich für alle Gruppen von Menschen triftige Gründe, die
Zielsetzungen der Evangelisation vor dem Hintergrund solider theologischer und kultureller
Prinzipien in Frage zu stellen. Zu Recht betrachten vor allem Frauen die Vorstellungen und
Praktiken der Evangelisation, die sie selbst betreffen, mit Kritik. Wie ist Gott wahrnehmbar?
Welcher Wert wird dem Leben, der Identität, der sozio-kulturellen Wirklichkeit und den
konkreten Bedürfnissen von Frauen beigemessen? Werden Frauen als Objekte, als
Werkzeuge, als Menschen, die sich aufzuopfern haben, betrachtet? Und wer entscheidet
darüber?
Nun ist es aber eine Sache, Evangelisationsmodelle zu kritisieren, und eine andere, die
Glaubwürdigkeit der Evangelisation an sich in Frage zu stellen. Nicht alle Kritik an der
Evangelisation ist gerecht, und alle Kritik der Welt ändert nichts an der Tatsache,
daß das Evangelium Christi seinem Wesen nach Verkündigung des Lebens, der
Freiheit und der Hoffnung ist und daß Frauen dies als wahr erkannt haben (und noch
immer erkennen). Frauen finden im Evangelium, im gottesdienstlichen Leben und in der
Diakonie der Kirche gerade die Erkenntnisse, Symbole und spirituellen Elemente, nach denen
sie in ihrem Streben nach "höherer Lebensqualität" suchen. Das spiegelt sich
deutlich in der Tatsache, daß Frauen überall die überwältigende
Mehrheit der Aktiven im Leben der Kirche ausmachen. Wenn dieses Bewußtsein
"höherer Lebensqualität" zum Ausgangspunkt für den Glauben an Christus
und für ein stärkeres Selbstbewußtsein wird, wenn es Menschen motiviert,
die neue Gemeinschaft zu feiern und für sie einzutreten, dann entsteht eine sehr
fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Evangelisation und den Anliegen von Frauen.
Am Anfang dieses Briefes hatte ich angekündigt, daß ich kurz auf die
Evangelisation als einen Dienst eingehen möchte, der sich der gebrochenen
Herzen, der Verzweiflung von Frauen annimmt. Mit gebrochenen Herzen wird
immer häufiger der Schmerz beschrieben, den Frauen über Generationen erlitten
haben. Er steht für die von Frauen verinnerlichten Verletzungen, die ihnen kollektiver
und persönlicher Mißbrauch und Diskriminierung über die Jahrhunderte
zugefügt haben. Der Ausdruck bezeichnet keine neue Form des Unrechts an Frauen. So,
wie Marlene Perera und andere diesen Ausdruck verwenden, sagt er vielmehr aus, daß
Frauen selbst dazu neigen, sich mit der Gebrochenheit zu identifizieren, die sie um sich herum
wahrnehmen. Diese Neigung wird zur - für die Evangelisation wesentlichen - Basis einer
neuen Wahrnehmung Gottes als des Lebendigen, der in Christus für die
Versöhnung der Menschen eintritt. Wenn Frauen sich bewußt werden, daß
Gott sich ihrer annimmt und ihnen und den gebrochenen Menschen und Gemeinschaften, die
sie kennen, Hoffnung auf einen neuen Anfang schenkt, dann begeben sie sich mit ihrem Leben
auf Gottes Wege und helfen mit, die Gebrochenheit zu heilen.
Es läßt sich unschwer erkennen, daß Frauen zu der Überzeugung
gelangen, ihr Dienst sei vor allem anderen ein Dienst an anderen Frauen. Es gibt
natürlich stichhaltige gesellschaftliche und kulturelle Gründe für die
Neigung von Frauen, sich in erster Linie für andere Frauen einzusetzen. Sie liegen in
dem natürlichen Zugang zu anderen Frauen und an dem "Raum", der ihnen für
den Umgang miteinander in verschiedenen Kulturen zugestanden wird. Über die
gesellschaftlich bedingten Gründe hinaus und jenseits von ihnen besteht indessen unter
ihnen ein einzigartiges Gefühl der Zusammengehörigkeit, das es ihnen
ermöglicht, sich zusammenzuschließen, Selbstbewußtsein zu gewinnen und
gemeinsam um das Überleben und für den Schutz des Lebens zu kämpfen.
Auf diese Weise können sie Gottes Gabe des Lebens durch Jesus immer wieder neu,
dynamisch und verwandelnd annehmen. Diese Form der Evangelisation habe ich vor allem
unter afrikanisch-amerikanischen und hispanischen Frauen in den USA, unter Frauen in
pfingst-kirchlichen Gemeinschaften und protestantischen Volksbewegungen in Lateinamerika
und in organisierten Frauengruppen in anderen Ländern und Regionen
kennengelernt.
Es muß klar gesagt werden, daß ein solcher Ansatz Evangelisation unter den
Vorzeichen von Selbstverleugnung und Herrschaft ausschließt. Vielmehr treten an die
Stelle des in Kirche und Gesellschaft herrschenden negativen Herrschaftsmusters Mitleiden
und wechselseitige Verbundenheit. Durch die Jahrhunderte ist mit der negativen Bewertung
der Körperlichkeit, der Sexualität, der Beiträge etc. von Frauen schon ein
allzu großer Schaden angerichtet worden, als daß ihn Evangelisation
wiedergutmachen könnte. Unsere Beziehungen in der Menschheitsfamilie sind schon
genügend dadurch verarmt, daß Frauen eine passive Opferrolle zugewiesen
worden ist. Deshalb sollte die Evangelisation nicht auch noch in diese Richtung wirken. Christi
Art des Umgangs mit Frauen war erstaunlich frei von negativen Vorurteilen und dem Wunsch
nach Herrschaft. In krassem Gegensatz zu den herrschenden Auffassungen seiner Zeit gestand
er den Frauen einen eigenen Wert zu. Er betrachtete sie als gleichwertig und achtete sie. Er
sprach mit ihnen, heilte sie und vergab ihnen ihre Sünden; er ermutigte sie, sich ihrer
Würde als Töchter Gottes zu freuen. War er es nicht, der sich den
Mühseligen und Beladenen zuwandte und ihnen sein Joch anbot? Evangelisation
für die Verzweifelten muß sich an seinem Vorbild orientieren. Dieses Vorbild
beschrieb Clair Fussell überzeugend in der International Review of Mission
(1992): "Für mich ist Evangelisation zu dem Prozeß geworden, durch den ich in
meinen Schwestern das Göttliche erkennen und auf diese Realität reagieren, sie
mit ganzer Seele lieben, sie an meinem Weg teilhaben lassen und sie zu ihrem eigenen Leben
ermutigen kann."
Wie in der größeren Frauenbewegung beschränkt sich die hier beschriebene
Evangeli-sation nicht auf einen eng begrenzten Katalog von Frauenproblemen, sondern
umfaßt das Wohl der ganzen Kirche und der ganzen Gemeinschaft. Sie teilt die
Hoffnung, die sie aus der Menschwerdung Christi schöpft, gleichermaßen mit
Männern, Kindern und jungen Menschen. Ermutigt durch den Heiligen Geist
läßt sich ein so verstandener Dienst auf die Herausforderungen des Alltagslebens
ein und spendet Kraft, sich den Mächten, die Menschen ausgrenzen und ihnen ihre
Würde absprechen, zu widersetzen. Die bei weitem größte Kraft für
diese evangelistische Bewegung kommt von den Frauen selbst, doch gibt es zahlreiche gute
Beispiele wahrhafter Evangelisation, die Männer, junge Menschen, Kinder und die
umfassendere Gemeinschaft einbezieht. Wo diese Modelle umgesetzt werden - in den
favelas in Rio de Janeiro, in der Anonymität westeuropäischer Stadtviertel
oder in indischen Dörfern - haben sie nachhaltige Auswirkungen auf Werte wie
gegenseitige Achtung und fürsorgliche zwischenmenschliche Beziehungen.
Nach meiner Auffassung sind wahrhafte Evangelisation und die legitimen Anliegen von Frauen
keine Widersacher, sondern Freunde und Verbündete auf dem Wege zu einer gerechten
Zukunft für alle Menschen. Wo Gottes Gabe des Lebens durch Christus sich der
gebrochenen Herzen von Frauen annimmt, leistet sie einen einzigartigen Beitrag zu
dem kostbaren Gut der Ganzheit, zum Heil der Welt. Wir sehnen uns nach der Erfüllung
der Verheißung Gottes, daß dereinst sein Heil aufgerichtet wird. In dieser
Heilserwartung kommt es uns zu, Frauenanliegen und - probleme zu einem festen
Bestandteil unserer Evangelisation zu machen und das Ringen von Frauen mit der Praxis
wahrhafter Evangelisation zu unterstützen.
Ich komme nun zum Schluß und möchte Sie ermutigen, Ihre Vorstellungen mit
mir zu teilen und sich zu diesem Thema zu äußern. Wie geht Ihre Kirche, Gruppe
oder Organisation mit den hier erörterten Fragen um? Möchten Sie uns an Ihren
Erfahrungen oder an einer Geschichte teilhaben lassen? Ich hoffe, künftig etwas von
Ihren Reaktionen veröffentlichen zu können, damit auch andere davon profitieren
können.
Ana Langerak
Wie sollen wir nun an die erkennbaren und die als solche empfundenen Heraus-forderungen
herangehen, mit denen wir es hier zu tun haben? Wir sollten von einigen grundlegenden
theologischen Überzeugungen ausgehen. Erstens müssen wir sagen: Wenn die
Frohe Botschaft die Verkündigung des Willens und des Wirkens Gottes für die
Befreiung der ganzen Schöpfung ist, dann ist sie vor allem die Frohe Botschaft,
daß Frauen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind und daß sie deshalb so, wie sie
sind, geliebt werden. Zweitens müssen wir im Blick auf die derzeitige Praxis der
Evangelisation sagen, daß wir es nicht mit dem Evangelium, sondern mit rein abstrakten
Vorstellungen, mit lebloser, vertröstender oder entfremdender Religiosität oder
Dogmen zu tun haben, wenn das Evangelium nicht in den Erfahrungen des Alltags - und damit
auch der Diskrimi-nierung und Gewalt, die das Los der meisten Frauen sind - verstanden, auf
diese Erfahrungen bezogen, verkündigt und prophetisch relevant wird. Und drittens
müssen wir deutlich machen, daß der Glaube an Christus und die Teilhabe an dem
von Gott geschenkten Leben im Blick auf die gerechtigkeitsbezogenen Bestrebungen und
Anliegen der Frauen keine Rivalen, sondern vielmehr Freunde sind, weil sie die von
Gott gewollte Ganzheit offenbar werden lassen.Friede und Wohlergehen
Referentin für Evangelisation