FRIEDE
AUF ERDEN:
EINE NEUE VISION UND PRAXIS
ÖRK-Generalsekretär
Konrad Raiser
Ansprache auf der Konsultation über gewaltlose
Wege der Konfliktlösung, Corrymeela, 2. Juni 1994
Während wir hier in Corrymeela
zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch über gewaltlose Wege der Konfliktlösung
zusammenkommen und damit teilweise den Beschluss des ÖRK-Zentralausschusses
in Johannesburg einlösen, ein ökumenisches Programm zur Überwindung
von Gewalt einzuleiten, gehen in Angola, Bosnien und Ruanda drei der grauenvollsten
und gewalttätigsten Konflikte in dieser Generation weiter. Wir wissen,
wie dringend wir einer neuen Vision und Praxis bedürfen, um im Sinne
der biblischen Verheissung Frieden auf Erden zu verwirklichen; gleichzeitig
sind wir uns aber auch mehr denn je der Kultur der Gewalt bewusst, die
uns umgibt und gefangenhält, wie auch der Verzagtheit und Erfolglosigkeit
unserer Bemühungen, Friedensstifter zu sein. Unsere Reaktion auf
die unvorstellbaren menschlichen Leiden, die die anhaltenden Konflikte
verursachen, und auf die Notwendigkeit, den Opfern zu helfen, nimmt offenbar
alle unsere physischen und emotionalen Energien in Anspruch und lässt
nur wenig Raum für ein geduldiges Hinarbeiten auf eine grössere
Annahmebereitschaft für gewaltlose Methoden der Konfliktlösung.
Als der Generalsekretär der Vereinten Nationen seine "Agenda
für den Frieden" vorlegte, unterschied er zwischen Friedenssicherung,
Friedensschaffung und Friedenskonsolidierung. Die offenkundige Ohnmacht
und Schwäche der Vereinten Nationen als ein Instrument der Friedenssicherung
hat die klassische Methode der Friedensschaffung durch militärische
Intervention, angeblich zu humanitären Zwecken, wieder in den Vordergrund
treten lassen. Dabei wird der längerfristigen Aufgabe der Friedenskonsolidierung
und ihren spezifischen Erfordernissen wenig oder keine Beachtung geschenkt.
Wenn wir in diesen Tagen über
gewaltlose Wege der Konfliktlösung und Strategien zur Überwindung
von Gewalt diskutieren, dann müssen wir uns die Tatsache vor Augen
halten, dass wir uns einer Tagesordnung zuwenden, die entgegen ihrer breiten
biblischen Legitimation und langen ökumenischen Tradition heute weniger
bereitwillig akzeptiert wird als vor fünf Jahren, als der Kalte Krieg
seinem Ende zuging. Zwar leben wir heute nicht mehr in einer Situation,
in der sich die beiden Machtblöcke mit ihren nuklearen Abschreckungssystemen
gegenüberstehen, doch hat die Auflösung des alten Gleichgewichts
des Schreckens nicht zu einer neuen internationalen Friedens- und Gerechtigkeitsordnung
geführt. Vielmehr sind zahlreiche Bürgerkriege ausgebrochen,
die in völliger Missachtung der elementarsten Normen des humanitären
Völkerrechts ausgetragen werden. Die Einsichten und Überzeugungen,
die wir in unserem jahrelangen Eintreten für Frieden und Gerechtigkeit
gewonnen haben, helfen uns anscheinend nicht angesichts der Gewalt, die
in diesen Konflikten zum Ausbruch kommt. Wir müssen mit unserer Analyse
noch einmal von vorne anfangen und sollten dabei auch unsere Praxis kritisch
überprüfen. Als Christen können wir nicht anders, als an
der Hoffnung festhalten, dass Gott seiner Verheissung des Schalom treu
bleiben wird. Es ist wohl eher dieser eschatologische Realismus als unsere
moralischen und ethischen Überzeugungen im Zusammenhang mit Frieden
und Gewaltlosigkeit, der uns vor Selbstgerechtigkeit oder Verzweiflung
bewahrt.
I.
Unser gemeinsames Vermächtnis
Die ökumenische Bewegung
hat sich von Anfang an für den Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung
eingesetzt. Man kann nicht genug auf die frühen Impulse hinweisen,
die von der Kirchlichen Friedensunion ausgingen, an den Beitrag der Christen
zur Zweiten Haager Friedenskonferenz sowie an die Gründung des Internationalen
Versöhnungsbundes und des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit
der Kirchen. Wichtigster Ausdruck dieses frühen Engagements war die
von Erzbischof Nathan Söderblom angeregte Bewegung für Praktisches
Christentum. In einer gemeinsamen Resolution des Weltbundes und der Bewegung
für Praktisches Christentum, die ein Echo auf den Briand-Kellogg-Pakt
von 1928 darstellte, wurden die entscheidenden Elemente für ein ökumenisches
Zeugnis für Frieden und gewaltlose Konfliktlösung formuliert.
Diese sogenannte Eisenach-Avignon-Resolution von 1928/29 verwarf den Krieg
als Mittel zur Beilegung von Konflikten und erklärte ihn als unvereinbar
mit dem Geist und dem Weg Jesu Christi und seiner Kirche. Die Resolution
forderte mit Nachdruck dazu auf, alle internationalen Konflikte und Streitigkeiten,
die nicht auf dem normalen diplomatischen Weg beigelegt werden können,
einem verbindlichen Schlichtungsverfahren, z.B. vor dem Internationalen
Gerichtshof, zu unterwerfen. Sie rief die Kirchen dazu auf, unmissverständlich
zu erklären, dass sie einen Krieg, dem nicht ein solches Schlichtungs-
oder Vermittlungsverfahren vorausgegangen ist, weder unterstützen
noch an ihm teilnehmen werden.
Zwischen dieser Resolution und den
Aussagen der ökumenischen Versammlungen im Rahmen des konziliaren
Prozesses (JPIC) 1989/90 besteht eine Analogie. Sie wurden jeweils zu
einer Zeit formuliert, als Hoffnung bestand, dass der Krieg als eine Institution
überwunden und geächtet werden könnte. In beiden Fällen
änderte sich jedoch bald darauf das internationale Klima grundlegend.
Die auf die Eisenach-Avignon-Resolution folgenden drei Jahrzehnte wurden
immer stärker von einer Atmosphäre der Konfrontation bestimmt,
die schliesslich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte. Die
Erste Vollversammlung des ÖRK 1948 in Amsterdam konnte daher nur
die Überzeugung der Oxforder Konferenz von 1937 wiederholen, dass
Krieg nach Gottes Willen nicht sein solle und dass er als ein Zeichen
der Macht der Sünde in dieser Welt verurteilt werden müsse.
Zugleich aber gebot der Realismus den Christen, mit der Manifestation
menschlicher Bosheit und Sünde zu rechnen, und so konnte die Vollversammlung,
genau wie die Konferenz von Oxford, nur bestätigen, dass es in der
Frage von Krieg und Frieden drei widerstreitende Grundpositionen gab.
Diese Positionen waren:
1. die Haltung des klassischen
Pazifismus, der sich jeder Teilnahme am Krieg verweigert und an die Stelle
bewaffneter Gewalt die aktive Friedensarbeit setzt;
2. die Haltung der klassischen
Staatsethik, wonach der Staat als von Gott eingesetzte Erhaltungsordnung
notfalls auch zur Anwendung von Gewalt bereit sein muss, um die Gerechtigkeit
zu verteidigen, und dass er Christen zur Verteidigung ihres Landes zum
Waffendienst verpflichten kann;
3. die Haltung einer konsequenten
Anwendung der Lehre vom gerechten Krieg, die zu der Schlussfolgerung
kommt, dass der moderne, mit Massenvernichtungswaffen geführte
Krieg niemals ein Akt der Gerechtigkeit sein kann. Diese Wiederentdeckung
der kritischen Funktion der Lehre vom gerechten Krieg kann wohl als
der bedeutendste Beitrag der frühen ökumenischen Konferenzen
zu einer ökumenischen Friedensethik betrachtet werden.
Die Vollversammlung von Amsterdam
hatte am Vorabend des Beginns des Kalten Krieges stattgefunden, und so
waren die darauffolgenden Jahre durch das kontinuierliche Eintreten für
Abrüstung und Rüstungsbeschränkung geprägt. Wichtiger
noch war jedoch die Tatsache, dass man in diesen Jahren die unauflösliche
Zusammengehörigkeit von Frieden und Gerechtigkeit wiederentdeckte.
Frieden ist mehr als Abwesenheit von Krieg. Nicht nur Waffen bedrohen
den Frieden, sondern auch Hunger, Unterdrückung und Ungerechtigkeit.
Der Satz aus der Entwicklungsenzyklika von Papst Paul VI. "Popolorum
Progressio" (1967): "Entwicklung ist der neue Name für
Frieden", fasst diese neue Einsicht prägnant zusammen. Damit
verbunden war eine zunehmend kritische Einschätzung aller Konzepte
zur Sicherung des Friedens, die rein militärisch orientiert waren,
insbesondere der Doktrin der "nationalen Sicherheit". Wenn diese
Einsichten auch eindeutig durch die internationale Konfrontationslage
während des Kalten Krieges geprägt waren, so dürfen wir
ihren grundlegenden Einfluss doch nicht aus den Augen verlieren. Die Erklärung
der Vollversammlung von Vancouver zu "Frieden und Gerechtigkeit"
stellt nach wie vor die verbindliche Zusammenfassung der in dieser Zeit
gesammelten kritischen Einsichten und Überzeugungen dar.
Die ökumenische Überzeugung,
dass "es nirgendwo je Frieden geben kann, wenn es nicht überall
für alle Gerechtigkeit gibt", wurde im Rahmen des Programms
zur Bekämpfung des Rassismus und dessen Unterstützung für
Befreiungsbewegungen, die dem Unrecht des Rassismus mit militärischen
Mitteln begegneten, auf ihre härteste Probe gestellt. Diese Herausforderung
löste die bisher weitgehendste Reflexion des Ökumenischen Rates
der Kirchen über "Gewalt und Gewaltlosigkeit im Kampf für
soziale Gerechtigkeit" aus. Dabei wurden schliesslich die drei klassischen
Grundhaltungen zu Krieg und Gewalt bekräftigt und die Vertreter der
drei Positionen zur wechselseitigen Überprüfung ihrer Überzeugungen
aufgefordert. Hinter diesen Grundhaltungen stehen verschiedene Auffassungen
von dem Verhältnis der christlichen Gemeinschaft zur Staatsmacht.
Diese versteckten Prämissen einer christlichen politischen Ethik
müssen eingehender untersucht werden, wenn wir aus der Sackgasse
herauskommen wollen, in die die ökumenische Bewegung in Fragen von
Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltlosigkeit geraten ist.
II. Die neue
Weltlage nach Beendigung des Kalten Krieges
Die internationalen Veränderungen
nach 1989 haben tiefgreifende Implikationen für unsere Definition
von Frieden und unsere Praxis der Friedenskonsolidierung. Ich brauche
hier auf die Abfolge der verschiedenen Ereignisse nicht weiter einzugehen,
doch müssen einige Elemente herausgehoben werden. Entgegen einer
eurozentrischen Betrachtungsweise der grundlegenden Veränderungen,
die stattgefunden haben, müssen wir uns vor Augen halten, dass das
Jahr 1989-90 wohl einer jener epochemachenden Zeitabschnitte gewesen ist,
die weltweite Konsequenzen haben. Die einschneidenden Ereignisse erschöpfen
sich daher nicht im Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa,
sondern dazu gehören genauso das inzwischen besiegelte Ende der Apartheid
in Südafrika, die neue Machtkonstellation in Mittelamerika, aber
auch die Unterdrückung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik
China. Der Wandel in Europa hat in der "Charta für ein neues
Europa", die auf dem KSZE-Gipfel im November 1990 in Paris angenommen
wurde, seinen prägnanten Ausdruck gefunden. Parallel dazu wurde der
erste wirkliche Abrüstungsprozess in Gang gesetzt, der weit über
die bisherigen Massnahmen der Rüstungskontrolle hinausging. In zahlreichen
anderen Teilen der Welt haben diese Veränderungen zu entschlossenen
Schritten auf dem Weg zur Demokratie geführt, und auf internationaler
Ebene ist die veränderte Rolle der Vereinten Nationen ein sichtbarer
Ausdruck für den Anbruch einer neuen Phase in den internationalen
Beziehungen. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete ein Ende der bipolaren
Konfrontation, die nicht nur die europäische und nordatlantische
politische Bühne jahrzehntelang beherrscht, sondern auch den Rahmen
für die Weltpolitik insgesamt abgesteckt hatte. Die Frage einer internationalen
Friedensordnung ist nicht länger nur Gegenstand theoretischer Diskussionen,
sondern ist heute in den Mittelpunkt internationaler Politik getreten.
Der Golfkrieg, der nur kurze Zeit
nach diesen epochemachenden Veränderungen geführt wurde, zeigte
jedoch deutlich, dass der Schritt von der Konfrontation zur Kooperation
weder automatisch noch eindeutig ist. Die Debatte, die während der
Siebten Vollversammlung des ÖRK in Canberra über die Erklärung
zum Golfkrieg geführt wurde, liess erkennen, dass die Kirchen noch
nicht in der Lage sind, eine kohärente Antwort auf die Frage zu geben,
wie internationale Konflikte auf Wegen beigelegt werden können und
sollten, die Frieden in Gerechtigkeit fördern. Dieses Dilemma ist
angesichts der jüngsten gewalttätigen Konflikte im ehemaligen
Jugoslawien und in mehreren afrikanischen Ländern noch schärfer
zutage getreten. Das Wiederaufleben des Nationalismus, die Erfahrung von
Völkermord und ethnischer Säuberung sowie die Unfähigkeit
der Vereinten Nationen, ihre Rolle als Instrument der Friedenssicherung
zu spielen, haben ein Klima der Verunsicherung und Verwirrung geschaffen.
Weder politisch noch ethisch herrscht Klarheit darüber, wie die Probleme
zu definieren sind und folglich, wie sie angemessen gelöst werden
können. Am meisten irritiert jedoch die Tatsache, dass nationale
Identität, ethnisches Selbstbewusstsein und religiöse Zugehörigkeit
in der Mehrzahl dieser Konflikte mehr und mehr zu einer explosiven Mischung
werden, die eine Lösung der Probleme schier unmöglich erscheinen
lässt. Zwar werden nur wenige der nach dem Kalten Krieg aufgebrochenen
Konflikte primär aus religiösen Gründen ausgetragen, doch
werden religiöse Loyalitäten für politische Zwecke instrumentalisiert
und manipuliert, und die betroffenen religiösen Gemeinschaften, ob
Christen. Muslime oder andere, haben sich weitgehend als unfähig
erwiesen, sich gegen diese Pervertierung ihrer wahren Integrität
zu schützen. Daraus folgt, dass religiöse Gemeinschaften, einschliesslich
der christlichen Kirchen, in demselben Masse Teil des Problems sind wie
sie zu seiner Lösung beitragen könnten.
Die rapide Veränderung des internationalen
Klimas in den Jahren nach 1989 erinnert an eine analoge Veränderung
des politischen Klimas vor sechzig Jahren. Die hohen Erwartungen während
der ausgehenden 20er Jahre, wie sie im Briand-Kellogg-Pakt und in dessen
ökumenischem Gegenstück, der Eisenach-Avignon-Resolution, zum
Ausdruck kamen, wurden mit dem Aufkommen von Faschismus, Stalinismus und
Nationalsozialismus enttäuscht. Die Weltwirtschaftskrise von 1929
und danach leitete die Entwicklung ein, die letztlich zum Zweiten Weltkrieg
führte. Bei aller Vorsicht, die bei historischen Analogien geboten
ist, fordert die gegenwärtige Brüchigkeit der internationalen
Ordnungsstrukturen von den Christen ein noch entschiedeneres Zeugnis im
Dienst von Frieden und Gerechtigkeit.
Auf ökumenischer Ebene sind
die Jahre 1989-90 als Höhepunkt des konziliaren Prozesses für
Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung anzusehen. Zwar
wurden die im Verlauf dieses Prozesses gewonnenen Einsichten und Überzeugungen
von den darauffolgenden Ereignissen weitgehend überschattet, doch
kann die ökumenische Bewegung nicht hinter den breiten Konsensus
zurückgehen, der in diesen Jahren unter voller Beteiligung der römisch-katholischen
Kirche erreicht worden ist. Vier Grundüberzeugungen können herausgestellt
werden, die für unsere gegenwärtige Reflexion weiterhin als
Richtlinien dienen sollten.
1. Krieg ist kein legitimes
Mittel zwischenstaatlicher Politik mehr. Moderne Kriege unter Einsatz
von Massenvernichtungswaffen, die keinen Unterschied zwischen Zivilbevölkerung
und Kriegsteilnehmern machen, müssen nach den ethischen Kriterien
der Lehre vom gerechten Krieg abgelehnt und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
geächtet werden.
2. Gerechtigkeit und Frieden gehören
untrennbar zusammen. Frieden ist nicht allein Abwesenheit von Krieg,
und Strukturen der Ungerechtigkeit stellen eine permanente Bedrohung
für die Sicherheit der Menschen dar. Der Prozess der Erhaltung
und Konsolidierung des Friedens muss begleitet sein von dem beharrlichen
Eintreten für grössere Gerechtigkeit und konsequentere Respektierung
der Menschenrechte. An die Stelle der klassischen Lehre vom gerechten
Krieg, die Kriege verhindern oder begrenzen sollte, muss heute die Konzeption
eines gerechten Friedens treten. Krieg kann nicht länger ein Akt
der Gerechtigkeit sein.
3. Sicherheit ist nicht allein
ein militärisches Problem im Zusammenhang mit der Erhaltung staatlicher
Ordnung und Integrität. Es geht vielmehr darum, dass die Menschen
in Sicherheit leben können. Eine solche Sicherheit kann nur in
Zusammenarbeit, d.h. als gemeinsame Sicherheit gewährleistet werden.
Daher sind kooperative Sicherheitssysteme auf regionaler Basis zentrale
Bausteine einer neuen internationalen Friedensordnung.
4. Dem langjährigen Zeugnis
der historischen Friedenskirchen für Gewaltlosigkeit kommt in der
heutigen Situation neue Bedeutung zu. Es stellt die grundlegendste Herausforderung
an die herrschende Kultur der Gewalt dar und ist daher nicht mehr länger
eine zwar achtenswerte, aber idealistische und apolitische Position,
sondern es lässt deutlich werden, dass eine neue politische Vernunft
gefordert ist, die wir erlernen müssen, wenn die Menschheit überleben
soll.
Diese Überzeugungen, die noch
vor vier oder fünf Jahren auf breite Zustimmung gestossen sind, scheinen
heute fehl am Platz in einer Situation, in der Kriege zunehmend wieder
als ein legitimes Mittel der Politik betrachtet werden. Aggression, so
wird behauptet, kann nur durch Gewalt gestoppt werden, und von den Kirchen
wird wieder erwartet, dass sie den Einsatz militärischer Macht zur
Verteidigung der internationalen Ordnung und humanitärer Grundsätze
unterstützen oder sich zumindest der öffentlichen Kritik enthalten.
Die Lehre vom gerechten Krieg wird wieder zur Legitimierung "humanitärer
Interventionen" benutzt, und alte Feindbilder, die man längst
überwunden glaubte, tauchen in neuem Gewande wieder auf. Die entscheidende
Frage ist, ob wir auf die Unsicherheit und Turbulenzen der gegenwärtigen
Situation nach dem Reaktionsmuster antworten wollen, das sich in den Jahrzehnten
der Konfrontation herausgebildet hat, oder ob wir die heutige Situation
als eine Phase des Übergangs und der Neuorientierung verstehen können.
Zum erstenmal seit sechzig Jahren ist die Verwirklichung einer neuen internationalen
Friedensordnung, die von einer neuen Vision und Praxis untermauert wird,
möglich und gleichzeitig auch dringend notwendig geworden.
III.
Der Beitrag der Kirchen zum Aufbau einer Friedensordnung
Christen und Kirchen leben
in der Verheissung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen
Gerechtigkeit wohnt. Zum alttestamentlichen Schalom-Begriff gehören
die Dimensionen Frieden, Gerechtigkeit und Ganzheit der Schöpfung.
Der biblische Befehl an die Jünger Christi, Frieden zu stiften und
Versöhnung zu predigen, gewinnt angesichts des Zusammenbruchs von
Gemeinschaften und der Ausbreitung einer Kultur der Gewalt eine neue Dringlichkeit.
Die JPIC-Weltversammlung 1990 in Seoul rief zur Förderung einer Kultur
der aktiven Gewaltlosigkeit auf, die lebensfreundlich ist und keinen Rückzug
aus Situationen der Gewalt oder Unterdrückung darstellt, sondern
ein Engagement für Gerechtigkeit und Befreiung. Die Teilnehmer und
Teilnehmerinnen verpflichteten sich, "unsere persönlichen Beziehungen
gewaltlos zu gestalten. Wir werden darauf hinarbeiten, dass auf den Krieg
als legales Mittel zur Lösung von Konflikten verzichtet wird. Wir
verlangen von den Regierungen, dass sie eine internationale Rechtsordnung
schaffen, die der Verwirklichung des Friedens dient." In einem Hintergrundpapier
zur "Überwindung von Geist, Logik und Praxis des Krieges",
das auf der Tagung des ÖRK-Zentralausschusses im Januar 1994 in Johannesburg
vorgelegt wurde, hiess es: "Angesichts der Notwendigkeit, dem
Geist, der Logik und der Praxis des Krieges' entgegenzutreten und sie
zu überwinden und neue theologische Ansätze zu entwickeln, die
den Lehren Christi entsprechen - also nicht vom Krieg ausgehen, um zum
Frieden zu kommen, sondern bei der Notwendigkeit von Gerechtigkeit ansetzen
-, mag es an der Zeit sein, dass die Kirchen gemeinsam die Herausforderung
annehmen, auf jede theologische oder sonstige Rechtfertigung des Einsatzes
militärischer Gewalt zu verzichten - ob im Krieg oder im Rahmen eines
Sicherheitssystems, das auf militärischer Abschreckung beruht -,
und eine Koinonia zu werden, die sich für einen gerechten Frieden
einsetzt."
Ein grosser Teil der heutigen Konflikte
ist auf Unrechtsverhältnisse zurückzuführen, d.h. auf die
immer breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich (innerhalb von Staaten
wie auch im zwischenstaatlichen Vergleich), auf Machtkämpfe, Wiederaufleben
von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Gewalt gegen Frauen und Kinder,
rücksichtslosen Verbrauch der natürlichen Ressourcen, Ausbreitung
des Waffenhandels - während Millionen Menschen an Mangelernährung
und Krankheiten sterben. Zahlreiche Konflikte gehen auch auf alte Streitigkeiten
zurück, die in der Zeit der Konfrontation der beiden Grossmächte
unterdrückt worden waren, d.h. auf Spannungen zwischen ethnischen,
nationalen, Religions-, Sprachen- und Rassengruppen. In vielen solchen
Fällen ist der Versuch, den Konflikt mit Mitteln der Gewalt zu regeln,
ein Indiz dafür, dass selbst die elementarsten Formen der Kommunikation
nicht mehr funktionieren. Viele der heutigen Konflikte hätten wohl
niemals ein so erschreckendes Ausmass an Gewalt angenommen, wenn nicht
so reichlich hochentwickelte und immer kostspieligere Waffen zur Verfügung
gestanden hätten und wenn das Militär nicht von der Ideologie
der nationalen Sicherheit indoktriniert wäre.
Frieden schaffen ist zweifellos eine
komplexe Aufgabe, und der Beitrag, den Christen und Kirchen dazu leisten
können, muss mit realistischer Bescheidenheit gesehen werden. Verglichen
mit der Situation vor sechzig Jahren haben die Kirchen heute auf der ganzen
Welt nur begrenzt die Möglichkeit, die politischen Entscheidungsprozesse
zu beeinflussen. Die historischen Kirchen, insbesondere evangelischer
und orthodoxer Tradition, sehen sich dem Dilemma einer zweigeteilten Loyalität
ausgesetzt, gegenüber ihrem Volk und Land auf der einen und gegenüber
dem universalen Leib Christi auf der anderen Seite. Ich möchte auf
drei Möglichkeiten hinweisen, wie die Kirchen zum Aufbau einer internationalen
Friedensordnung beitragen können: durch Förderung eines grundlegenden
Bewusstseinswandels, durch den Aufbau von Beziehungsnetzen und durch Unterstützung
konkreter Initiativen, die dem Frieden und der gewaltlosen Beilegung von
Konflikten dienen.
a)
Förderung des Bewusstseinswandels. Ist die Überwindung der Institution
des Krieges ein idealistisches, utopisches Ziel? Noch immer jedenfalls
gilt es als realistisch, von der geschichtlichen Unvermeidlichkeit militärischer
Konflikte zwischen Staaten auszugehen. Ethik und Rechtsordnung waren bisher
allenfalls darauf ausgerichtet, den Krieg zu zähmen und einzugrenzen,
d.h. den Rahmen festzulegen, innerhalb dessen Kriege als legitime Fortsetzung
der Politik mit anderen Mitteln angesehen werden konnten. Diese traditionelle
Einstellung zum Krieg findet ihre geschichtliche Analogie in der Institution
der Fehde zur Regelung von Konflikten zwischen Sippen, Familien oder Einzelpersonen
in früheren Gesellschaften. Die christlichen Kirchen haben im ausgehenden
Mittelalter entscheidend zur Durchsetzung eines allgemeinen Landfriedens
beigetragen und damit den Weg zur Überwindung der Fehde geebnet.
An ihre Stelle trat eine staatlich geschützte Rechtsordnung, und
dem Staat wurde das Gewaltmonopol zuerkannt.
Wir stehen heute an dem Punkt,
wo im Blick auf zwischenstaatliche Konflikte derselbe Schritt unternommen
werden muss. Die alten ethischen und rechtlichen Regeln greifen im Zeitalter
der Massenvernichtungswaffen nicht mehr. An die Stelle der militärischen
Konfliktregelung muss eine internationale Rechtsordnung treten, die
die Integrität und die Rechte von Völkern und Staaten wirksam
schützt und damit den Einsatz militärischer Gewalt zur Verteidigung
der Souveränität überflüssig macht. Diese Forderung
mag utopisch klingen, doch ist sie zu einer Überlebens-notwendigkeit
geworden. Die Verwirklichung einer solchen Rechtsordnung setzt einen
grundlegen politischen und moralischen Bewusstseinswandel voraus, der
Zeit braucht. Und gerade hier haben die Kirchen einen unverzichtbaren
Beitrag zu leisten.
Ihre potentiell bedeutende Rolle
wird erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle kriegführenden
Staaten sich der moralischen oder religiösen Legitimation ihres
Handelns zu versichern suchen. Kriege sind immer ein ethischer Grenzfall,
und deshalb suchen die Verantwortlichen nach religiös begründeter
Rechtfertigung und reagieren empfindlich, wenn ihnen diese verweigert
wird. Wenn die Kirchen allerdings auf eine Entlegitimierung des Krieges
hinarbeiten wollen, dann müssen sie sich ernsthaft auf die Bedingungen
für einen gerechten Frieden konzentrieren, anstatt weiter über
die relative Gerechtigkeit von Kriegen nachzudenken.
Die Charta der Vereinten Nationen
sieht einen Katalog von Massnahmen zur Friedenssicherung vor, die bislang
jedoch nur selten wirklich angewandt worden sind. Dies gilt insbesondere
für den Internationalen Gerichtshof, dessen Urteilen diejenigen
Staaten, die der Verletzung völkerrechtlicher Grundsätze angeklagt
werden, häufig mit höflichem Desinteresse begegnen. Die Einrichtung
eines internationalen Tribunals zur Verfolgung von Kriegsverbrechern
im ehemaligen Jugoslawien könnte ein wichtiger Schritt zur Beendigung
der allgemeinen Straffreiheit sein, die diejenigen geniessen, die sich
massiver Verletzungen der Menschenrechte schuldig gemacht haben. Eines
der wichtigsten Ziele im Rahmen dieses neuen Ansatzes zur friedlichen
Beilegung von Konflikten muss in jedem Fall das Bemühen sein, die
Respektierung der Grundnormen des humanitären Völkerrechts
wiederherzustellen und fester zu verankern. Es geht hierbei um die Grundlagen
unseres Zusammenlebens als Staatsbürger und als Mitmenschen, und
die Kirchen können in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag leisten.
Der Golfkrieg, aber auch der Konflikt
im ehemaligen Jugoslawien haben die Grenzen der UN-Einflussnahme gezeigt
und zu einer Reihe von Vorschlägen für eine Reform des Systems
der Vereinten Nationen und ihrer Charta geführt. Ein konkreter
Bereich, der ein Überdenken erfordert, ist die Anwendung von wirtschaftlichen
Sanktionen und anderen Embargoformen mit dem Ziel, Druck auf die Konfliktparteien
auszuüben und eine Einigung oder zumindest eine Begrenzung des
Konflikts zu erreichen. Während die Sanktionspolitik im Fall des
Apartheidregimes in Südafrika zunehmende Unterstützung gefunden
und wohl zum endgültigen Zusammenbruch des Systems beigetragen
hat, werden im Zusammenhang mit den Sanktionen gegen Serbien oder Haiti
zahlreiche Zweifel angemeldet. In beiden Fällen hat die Verhängung
von Sanktionen unbeabsichtigt dazu geführt, dass die Position der
Machtinhaber gestärkt und der Konflikt infolgedessen verlängert
wurde. Der Zentralausschuss des ÖRK hat auf seiner Tagung in Johannesburg
die Empfehlung angenommen, eine Studie zur Sanktionspolitik und ihrer
Anwendung als Instrument der gewaltlosen Beilegung von Konflikten in
Auftrag zu geben. Ein konkretes Beispiel ist der Einsatz von Waffenembargos
und die Entwicklung internationaler Kontrollmechanismen für den
Waffenhandel. In allen genannten Fällen können die Kirchen
entscheidend dazu beitragen, solchen Vorstössen die notwendige
Öffentlichkeit und Politikfähigkeit zu verschaffen.
b)
Aufbau von Beziehungsnetzen. So wichtig es auch ist, dass sich die Kirchen
öffentlich für solche Vorschläge und Vorgehensweisen
zur gewaltlosen Beilegung von Konflikten stark machen, so dürfen
wir doch nicht vergessen, dass die Kirchen und die ökumenischen
Organisationen nicht in erster Linie öffentliche Institutionen
sind, sondern Gemeinschaften von Menschen. Worauf es ankommt, das sind
die Erfahrungen von Menschen in Konfliktsituationen und ihr aktiver
Beitrag zum Aufbau eines neuen staatsbürgerlichen Verantwortungsbewusstseins,
das sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaften zum Tragen kommt.
Immer mehr gewalttätige Konflikte entstehen aus Machtrivalitäten
zwischen kleinen Eliten, die ganze Bevölkerungen als Geiseln nehmen.
In dieser Situation wird es um so wichtiger, dass sich die Kirchen und
die ökumenischen Organisationen darauf konzentrieren, die elementaren
Bindungen innerhalb der Gemeinschaften zu festigen oder das soziale
Beziehungsnetz neu zu knüpfen, wenn dieses zerstört worden
ist. In vielen Gesellschaften sind der Wiederaufbau von Gemeinschaft
und der Abbau von tiefverwurzelten Feindbildern zu vorrangigen Aufgaben
geworden, die die Zusammenarbeit aller Mitglieder der Zivilgesellschaft
erfordern. Zu den überlieferten Werten vieler Kulturen und insbesondere
der traditionalen Gesellschaften zählen Kenntnisse der gewaltlosen
Konfliktbeilegung und des Widerstands gegen Gewalt von aussen. Jüngere
Beispiele der Friedensforschung und -praxis in verschiedenen Kontexten
belegen, dass diese traditionalen Netzwerke sozialer Beziehungen im
Interesse der Friedensschaffung und Konfliktlösung mobilisiert
werden können.
Ein verwandter Aspekt ist die Einrichtung
von Frühwarnsystemen zur Konfliktprävention. Früherkennung
und rechtzeitige Vorbeugung erfordern neue und andere Wege, Informationen
zu sammeln und weiterzugeben, d.h. ein Informationssystem, das die Signale
aus der Alltagswirklichkeit der Menschen aufnimmt. Kirchen und ökumenische
Einrichtungen haben in diesem Bereich einen Vorteil gegenüber Regierungen
und zwischenstaatlichen Einrichtungen, weil sie in allen Teilen der
Welt in den kleinsten Lebenszusammenhängen der Menschen verwurzelt
sind. Vorausgesetzt, sie entwickeln das notwendige Gespür, so müssten
sie in der Lage sein, Konflikte zu erkennen, bevor diese offen ausbrechen.
Sie können daher zur Früherkennung von innerstaatlichen und
zwischenstaatlichen Konflikten beitragen und vorbeugenden Massnahmen
den Weg bereiten.
Eine der Grundursachen für
gesellschaftliche und internationale Konflikte zwischen Staaten und
Bevölkerungsgruppen ist die verzerrte Wahrneh-mung der anderen,
ihrer Absichten und Interessen. Der Golfkrieg und der Konflikt im ehemaligen
Jugoslawien haben höchst beunruhigende Beispiele dafür geliefert,
in welchem Masse heute Propaganda und gezielte Falschinformation als
Waffen gegen den jeweiligen Feind eingesetzt werden. Auf diesem Hintergrund
gewinnt die Grundüberzeugung der Weltversammlung in Seoul neue
Bedeutung, in der es heisst: "Wir bekräftigen, dass die Wahrheit
zur Grundlage einer Gemeinschaft freier Menschen gehört."
Eine gerechte internationale Friedensordnung kann nur dann Bestand haben,
wenn alle Seiten uneingeschränkten Zugang zu den Informationsmitteln
haben und gleichzeitig in der Lage sind, ihre eigene Situation ungehindert
darzustellen. Die Kirchen können daher zum Aufbau einer dauerhaften
Friedensordnung beitragen, wenn sie sich zu unerschrockenen Anwälten
der Wahrheit machen und sich für eine uneingeschränkte Kommunikation
einsetzen. Insbesondere können sie als Vermittler und Überbringer
von wahrheitsgetreuen Informationen zwischen den Konfliktparteien agieren.
Sie können Propaganda und Falschinformationen aufdecken und so
den Boden für eine mögliche Beilegung des Konflikts bereiten.
Wie ich bereits erwähnt habe,
wird die Religion in vielen Fällen zu einem wichtigen Faktor in
der Dynamik von Konflikten. Besonders in Osteuropa, aber auch in anderen
Teilen der Welt ist die öffentliche Rolle der Religion als eine
der Grundlagen kollektiver Identität wieder deutlich hervorgetreten.
In Anbetracht der Tendenz, die Religion für politische Zwecke zu
instrumentalisieren und zu manipulieren, müssen alle Religionsgemeinschaften
und speziell die Kirchen es als ihre Verantwortung betrachten, die Gefahr
eines wirklichen Religionskonflikts mit allen seinen irrationalen Zügen
abzuwenden. Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat es sich die ökumenische
Bewegung zur Aufgabe gemacht, unter Beweis zu stellen, dass die weltweite
christliche Gemeinschaft ein solidarisches Beziehungsnetz ist, das nationale,
ethnische, kulturelle und sprachliche Grenzen überschreitet. Heute
gilt es, diese Aufgabe auf das Verhältnis zwischen den Weltreligionen
auszuweiten. Alle Religionen kennen und anerkennen das Grundgebot der
Nächstenliebe. Religionskonflikte stellen daher immer eine Verletzung
dieser Grundverpflichtung dar. Kirchen und Christen müssen deshalb
dazu bereit sein, der Kreuzzugsmentalität den Boden zu entziehen
und für eine globale Ethik des Friedens und der Gewaltlosigkeit
einzutreten. Die Arbeit der Weltkonferenz für Religion und Frieden
und die Erklärung des Weltparlaments der Religionen, das unlängst
in Chicago zusammentrat, sind als wichtige Bemühungen in dieser
Richtung anzusehen. Sie müssen allerdings umgesetzt und den jeweiligen
alltäglichen Beziehungen verschiedener, an einem Ort zusammenlebender
Religionsgemeinschaften angepasst werden.
c)
Initiativen im Dienst von Frieden und gewaltloser Konfliktregelung.
Ein konkreter Vorschlag, der sich im Zuge des konziliaren Prozesses
herausgebildet hat, gilt der Einrichtung von ökumenischen Friedens-diensten
für Gerechtigkeit und Versöhnung. Dieser Vorschlag gründet
in den Erfahrungen der christlichen Friedenskirchen und zahlreicher
ähnlicher Initiativen ohne explizit religiösen Hintergrund.
Es gibt heute in der internationalen Versöhnungsarbeit genug Zeugnisse
dafür, dass nicht nur innerstaatliche, sondern auch internationale
Konflikte durch die verschiedenen Formen öffentlicher Präsenz
sowie durch frühzeitige Information und kompetente Vermittlung
entschärft oder gar gelöst werden können. Im christlichen
Kontext hat sich hier eine neue Form des politischen Diakonats herausgebildet,
die nach offizieller Anerkennung auch durch die grossen Kirchen verlangt.
Vergegenwärtigt man sich, mit welchem Aufwand junge Menschen für
den Kriegsdienst ausgebildet und vorbereitet werden, dann wird deutlich,
wie unterentwickelt die Kompetenz der Gesellschaft zur gewaltlosen Lösung
von Konflikten ist. Die neueren Erfahrungen mit dem Einsatz von UN-Friedenstruppen
sind Beispiele dafür, dass militärisch ausgebildete Soldaten
nur ungenügend darauf vorbereitet sind, als Friedensstifter zu
wirken, und dass sie in dieser Rolle nicht selbstverständlich von
der Bevölkerung in den Konfliktgebieten anerkannt werden. Solange
es noch keine erkennbare Neuorientierung der politischen Prioritäten
gibt, müssten die Kirchen Initiativen ergreifen, um Menschen für
die Aufgaben der Konflikt-beobachtung, Vermittlung und Schlichtung vorzubereiten
und auszubilden. Die Erfahrungen der Friedensbrigaden in Mittelamerika,
der Friedens-komitees in Nicaragua oder des Ökumenischen Beobachtungsprogramms
Südafrika sind hier als Anregung und Ermutigung zu werten.
So wichtig solche Initiativen zur
Eindämmung oder Beilegung von Konflikten im Frühstadium auch
sind, in der Mehrzahl der Fälle werden Kirchen und christliche
Gemeinschaften in die Dynamik gewalttätiger Konflikte hineingezogen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben eine wichtige Form des christlichen
Versöhnungsdienstes erkennbar gemacht: den Dienst an Menschen,
denen Krieg, Gewalt und Folter emotionale und psychologische Traumata
zugefügt haben. Die im früheren Jugoslawien eingerichteten
Zentren für Frauen, die vergewaltigt worden sind, das Trauma-Zentrum
in Kapstadt und ähnliche Einrichtungen für Kinder, die Zeugen
von Greueltaten, oftmals in ihrer engsten Familie, geworden sind, belegen,
wie dringend die Opfer von Krieg und Gewalt spirituelle, seelsorgerliche
und psychologische Hilfe brauchen. Diese Wunden heilen oft viel langsamer
als die körperlichen Wunden, doch wird in diesen Heilungsprozessen
die Saat für eine künftige Versöhnung gesät.
Die Versöhnungsarbeit bleibt
eine Aufgabe, die auch nach Einstellung der Feindseligkeiten in Konfliktsituationen
weitergehen muss. Versöhnung setzt die Bereitschaft voraus, die
unverhüllte und häufig gewaltbereite Konfrontationshaltung
aufzugeben und sich auf einen Dialog einzulassen. Dieser Übergang
ist die kritischste Phase der Friedensschaffung. Aus jüngster Zeit
gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass die Kirchen einen wichtigen
Beitrag leisten können, indem sie den Weg für eine konstruktive
Kommunikation zwischen den Konfliktparteien frei machen. In der Phase
des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa wurde das Modell des "Runden
Tisches" entwickelt, der alle politischen und gesellschaftlichen
Gruppierungen zusammenführt, um gemeinsam über die Zukunft
der Gesellschaft nachzudenken. In vielen Fällen sind kirchliche
Persönlichkeiten gebeten worden, den Vorsitz bei solchen Runden
Tischen zu führen. In mehreren afrikanischen Ländern haben
Versöhnungs-bemühungen wieder an traditionelle Formen der
Konsensbildung angeknüpft und an der entscheidenden Rolle, die
die Ältesten in Grossfamilien oder Stämmen bei der Regelung
von Konflikten spielen. Diese Beispiele belegen die Bemühungen,
konfrontative Strategien zur Konfliktbewältigung, die auf Sieg
und Niederlage abzielen, in kooperative Prozesse zu verwandeln, die
allen tatsächlichen und potentiellen Konfliktpartnern gleichberechtigte
Teilnahme gewähren. Die Kirchen besitzen in der alten Tradition
konziliarer Konfliktregelung einen Erfahrungsschatz, den es gilt, für
den politisch-gesellschaftlichen Bereich fruchtbar zu machen.
Ein aktiver und glaubwürdiger
Beitrag der Kirchen zu Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung setzt
allerdings die Bereitschaft zum Eingeständnis des eigenen Versagens
sowie der Mitverantwortung und Schuld voraus, wenn der Teufelskreis
von Feindschaft und Vorurteil durchbrochen werden soll. Dies wird um
so wichtiger angesichts der Tendenz, in alte Verhaltensmuster der Aufrechnung
historischen Unrechts zurückzufallen und die Kirchen zur Legitimation
von ethnisch-nationalen Machtansprüchen zu missbrauchen. Zum Glück
gibt es Beispiele, wo die Kirchen eine führende Rolle auf dem Weg
zu einer Friedenskultur gespielt haben, speziell in Südafrika,
aber oft genug sind die Kirchen Teil des Problems, insbesondere dort,
wo sie eng mit nationalen Bestrebungen verquickt sind und sich mit diesen
identifizieren. Wie können wir am besten ein dauerhaftes Zeugnis
davon ablegen, dass unsere oberste Treuepflicht gegenüber Jesus
Christus und dem ganzen Volk Gottes besteht, und uns dem Nationalismus
widersetzen, der so häufig Fremdenhass, Rassismus und vielerlei
Formen der Diskriminierung hervorbringt? Auch die Opfer können
zu Unterdrückern werden.
Der Aufruf zur Versöhnung ist
ein Ruf, der an uns alle ergeht. Wir wissen, dass Versöhnung hier
in Nordirland wie in so vielen Teilen der Welt, die auf dieser Tagung
vertreten sind, eine ungeheuer schwierige Aufgabe ist. Jesu Worte fordern
uns noch immer heraus, doch ist mit der Herausforderung auch die Verheissung
gegeben: "Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.
Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und
fürchte sich nicht" (Johannes 14, 27).
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