Angenommen von der Achten Vollversammlung des
Ökumenischen Rates der Kirchen
Harare, Simbabwe, 3.-14. Dezember 1998
Der ÖRK hat sich seit 1948 wiederholt mit der Jerusalemfrage befasst. Jerusalem stellt seit der Zeit des Völkerbundmandats und der Teilung den Kern des israelisch-palästinensischen Konflikts dar, und doch ist diese Frage aufgrund der Komplexität der damit verbundenen Probleme immer wieder auf "künftige Verhandlungen" verschoben worden. Das Unvermögen der beteiligten Parteien und der internationalen Gemeinschaft, diese Frage zu lösen, hat zu einer Reihe von einseitigen Massnahmen geführt, die die geographischen und demographischen Gegebenheiten Jerusalems radikal verändert haben, und zwar in einer Weise, die insbesondere die Rechte der Palästinenser verletzt und eine anhaltende Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Bevölkerung der Stadt und der ganzen Region darstellt.
Im Bewusstsein der Tatsache, dass eine Regelung der Jerusalemfrage eine entscheidende Voraussetzung für jegliche endgültige Verhandlungslösung im Nahen Osten ist,
beschliesst die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die vom 3. - 14. Dezember 1998 in Harare (Simbabwe) tagt,
1. frühere Erklärungen des Ökumenischen Rates der Kirchen zu bekräftigen, denen zufolge
1.1. Jerusalem eine heilige Stadt für die drei monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - ist, und diese gemeinsam dafür verantwortlich sind, sicherzustellen, dass die Anhänger aller drei Religionen Zugang zu dieser Stadt haben und dort einander begegnen und miteinander leben können;
1.2. die Heiligen Stätten des Christentums in Jerusalem und den benachbarten Gebieten grösstenteils den Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen, insbesondere den östlich-orthodoxen und den orientalisch-orthodoxen Kirchen gehören. Jeder Lösungsvorschlag im Hinblick auf die Zukunft der Heiligen Stätten in Jerusalem sollte die legitimen Rechte der am unmittelbarsten betroffenen Kirchen berücksichtigen;
1.3. die besondere Gesetzgebung, die die Beziehungen zwischen den christlichen Gemeinschaften und den Behörden regelt und die durch historische Übereinkünfte garantiert und in internationalen Verträgen (Paris 1856 und Berlin 1878) sowie vom Völkerbund kodifiziert worden und als Status quo bekannt ist, beibehalten werden muss;
1.4. die Lösung der interreligiösen Probleme der Heiligen Stätten durch Gespräche unter internationaler Schirmherrschaft und mit Garantien angestrebt werden sollte, welche von den beteiligten Parteien und den zuständigen Instanzen respektiert werden müssen;
1.5. die Jerusalemfrage nicht nur eine Frage des Schutzes der Heiligen Stätten ist, sondern dass sie auch mit den Menschen, die dort leben, und mit ihren Religionen und Gemeinschaften organisch verbunden ist. Die Heiligtümer sollten nicht zu reinen Sehenswürdigkeiten werden, sondern als lebendige, integrative Orte des Gottesdienstes allen Gemeinschaften dienen, die in der Stadt leben und hier ihre Wurzeln haben, sowie all jenen, die sie aus religiösen Gründen besuchen möchten;
1.6. der künftige Status Jerusalems als Teil einer umfassenden Regelung des gesamten Konflikts im Nahen Osten und im Zusammenhang mit dem Schicksal sowohl des israelischen als auch des palästinensischen Volkes zu betrachten ist;
2. erneut auf die Bedeutung und Wichtigkeit der anhaltenden Präsenz christlicher Gemeinschaften in Jerusalem, den Geburtsort der christlichen Kirche, hinzuweisen, und von neuem die Verletzungen der Grundrechte der Palästinenser in Jerusalem zu verurteilen, von denen sich viele zum Verlassen der Stadt gezwungen sehen;
3. ihrer Auffassung Ausdruck zu geben, dass unverzüglich Verhandlungen über den künftigen Status Jerusalems aufgenommen werden müssen und dieseeher als Bestandteil denn als Ergebnis einer umfassenden Regelung für die Region zu betrachten sind, und dass solche Verhandlungen den folgenden Aspekten Rechnung tragen sollten:
3.1. dem gegenwärtigen Kontext im Nahen Osten, insbesondere der Entwicklung der Verhandlungen über den israelisch-palästinensischen Konflikt seit 1991;
3.2. den Implikationen des anhaltenden Konflikts für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit;
3.3. dem legitimen Streben aller Völker der Region - und insbesondere des israelischen und des palästinensischen Volkes - nach Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Gleichberechtigung und uneingeschränkter Mitwirkung bei Entscheidungen über ihre Zukunft;
3.4. dem langjährigen Engagement für den Status quo der Heiligen Stätten und für die Rechte und das Wohl der mit ihnen verbundenen Kirchen, Gemeinschaften und Völker.
3.5. den Erklärungen der Palästinensischen Befreiungsorganisation und des Staates Israel in bezug auf ihre gegenseitige Anerkennung und dem Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat;
4. an den völkerrechtlich verankerten Rahmen für den Status von Jerusalem zu erinnern, einschliesslich
4.1. der Bestimmungen des britischen Mandats für Palästina, das 1922 vom Rat des Völkerbunds bestätigt wurde und einen allgemeinen Rahmen für die Achtung der Rechte an den Heiligen Stätten und die Rechte von Religionsgemeinschaften absteckte;
4.2. des Berichtes des Sonderausschusses zu Palästina an die UN-Generalversammlung aus dem Jahre 1947 und des "Teilungsplans" (Res. 181, (II), 29. November 1947), in dem die Generalversammlung die Rechte an den Heiligen Stätten und die Rechte von Religionsgemeinschaften und Minderheiten im einzelnen regelte und die Stadt Jerusalem zu einem corpus separatum mit genau definierten geographischen Grenzen und einem Rechtsstatus erklärte;
4.3. der Res. 194 der UN-Generalversammlung (Dezember 1948), die den Sonderstatus von Jerusalem und das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr festlegt, sowie nachfolgender Resolutionen zur Bekräftigung der Resolutionen 181 und 194;
4.4. des Vierten Genfer Übereinkommens (1949), das nach wie vor auf Teile Palästinas Anwendung findet, die als "besetzte Gebiete" angesehen werden;
4.5. der Res. 303 (IV) der UN-Generalversammlung vom 9. Dezember 1948, in der die Generalversammlung erneut erklärt, dass "Jerusalem auf Dauer internationaler Aufsicht unterstehen..." und "einen Status als corpus separatum erhalten sollte, das unter besonderer internationaler Aufsicht ... von den Vereinten Nationen verwaltet wird" und
4.6. der Resolutionen 242 (1967) und 338 (1973) des UN-Sicherheitsrates, die den Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten einschliesslich Jerusalems fordern, sowie nachfolgender Resolutionen, die sich insbesondere mit Jerusalem befassen;
5. festzustellen, dass die internationale Gemeinschaft, wie sie von den Vereinten Nationen verkörpert wird, in bezug auf Jerusalem entscheidungsbefugt und verantwortlich bleibt und sich das Recht auf Genehmigung oder Zustimmung zu einer Veränderung des Rechtsstatus von Jerusalem vorbehält und dass weder einseitige Massnahmen noch ein von den Parteien vereinbarter endgültiger Rechtsstatus rechtsgültig sein können, bevor eine solche Zustimmung erteilt worden ist;
6. insbesondere die gemeinsame Denkschrift Ihrer Seligkeiten und der Oberhäupter der christlichen Gemeinschaften in Jerusalem zur Bedeutung Jerusalems für die Christen (14. November 1994) zu begrüssen, in der an alle Seiten appelliert wird, "Vorstellungen und Massnahmen, die von einem Ausschliesslichkeitsanspruch auf Jerusalem ausgehen, aufzugeben und die religiösen und nationalen Bestrebungen der anderen ohne Diskriminierung zu respektieren, um Jerusalem seine wahre Universalität zurückzugeben und die Stadt zu einem heiligen Ort der Versöhnung für die Menschheit zu machen";
7. anzuerkennen, dass die Verantwortung für eine Lösung in der Jerusalemfrage zunächst bei den direkt beteiligten Parteien liegt, dass jedoch die christlichen Kirchen sowie die jüdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften bei diesen Verhandlungen eine zentrale Rolle zu spielen haben.
8. Im Bewusstsein der Verantwortung der Kirchen im Hinblick auf Jerusalem verabschiedet die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen die folgenden Grundsätze, die bei jeder endgültigen Vereinbarung über den Status von Jerusalem Berücksichtigung finden und als Grundlage für einen gemeinsamen ökumenischen Ansatz dienen müssen:
8.1. Bei einer friedlichen Regelung der Gebietsansprüche von Palästinensern und Israelis sollte die Heiligkeit und Ganzheit der Stadt geachtet werden.
8.2. Der Zugang zu den Heiligen Stätten, religiösen Gebäuden und Plätzen sollte frei sein, und Menschen aller Religionen muss die freie Ausübung ihres Glaubens gewährleistet sein.
8.3. Alle Gemeinschaften in Jerusalem müssen die Gewähr haben, dass sie ihre Aktivitäten im religiösen, sozialen und Bildungsbereich ungehindert ausüben können.
8.4. Der freie Zugang der palästinensischen Bevölkerung zu Jerusalem muss sichergestellt und geschützt werden.
8.5. Jerusalem muss eine offene und integrative Stadt bleiben.
8.6. Jerusalem muss im Hinblick auf die Souveränität und die Staatsangehörigkeit ihrer Einwohner eine gemeinsame Stadt sein.
8.7. Die Bestimmungen des Vierten Genfer Übereinkommens über die Rechte der Palästinenser auf Eigentum, Bauen und Wohnen, das Verbot der Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung in den besetzten Gebieten und das Verbot von Veränderungen der geographischen Grenzen, der Annektierung von Gebieten oder einer Siedlungspolitik, die den religiösen, kulturellen und historischen Charakter von Jerusalem ohne Absprache mit den betroffenen Parteien oder Genehmigung durch die internationale Gemeinschaft verändern würde, müssen eingehalten werden.
9. Gemeinsam mit den Seligkeiten und den Oberhäuptern der christlichen Gemeinschaften in Jerusalem betrachten wir Jerusalem als ein Symbol und ein Versprechen der Gegenwart Gottes, eines gemeinsamen Lebens und des Friedens für die Menschheit, besonders zwischen den Völkern der drei monotheistischen Religionen, Juden, Christen und Moslems.
10. Die Vollversammlung betet mit dem Psalmisten für den Frieden in Jerusalem:
Bericht des Ausschusses für öffentliche Angelegenheiten
8. Vollversammlung und 50. Geburtstag |