Ö:kumenischer Rat der Kirchen

EKLÄRUNG ZU DEN MENSCHENRECHNTEN

Angenommen von der Achten Vollversammlung des
Ökumenischen Rates der Kirchen
Harare, Simbabwe, 3.-14. Dezember 1998



Einleitung

Der Ökumenische Rat der Kirchen engagiert sich seit vielen Jahren für die Entwicklung der internationalen Menschenrechtsnormen und -standards und für die Förderung der Menschenrechte. Mittels seiner Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten nahm der Rat an der Abfassung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen teil und trug dazu den Text des Artikels 18 über die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bei. Seit damals setzt sich der ÖRK für die Verwirklichung der Erklärung ein.

Im Vorfeld der Fünften Vollversammlung organisierte der ÖRK einen weltweiten Konsultationsprozess, um die Grundsätze seiner Menschenrechtskonzeption zu überprüfen. Diese Überprüfung führte 1974 zu der "Konsultation über Menschenrechte und christliche Verantwortung" in St. Pölten (Österreich), die Richtlinien für die 1975 in Nairobi angenommene Grundsatzerklärung ausarbeitete. Diese stellte die Menschenrechte in den Mittelpunkt der Kämpfe um die Befreiung von Armut, Kolonialherrschaft, institutionalisiertem Rassismus und Militärdiktatur; sie formulierte ferner eine umfassende neue ökumenische Tagesordnung für die Menschenrechtsarbeit.

Kirchen in vielen Teilen der Welt griffen die Anregungen der Vollversammlung von Nairobi auf. Sie setzten sich gezielter mit Menschenrechtsproblemen in ihrer jeweiligen Gesellschaft auseinander, traten in Militärdiktaturen häufig unter grossen Gefahren für die Menschenrechte ein, bauten ein weltweites ökumenisches Netzwerk für Menschenrechtssolidarität auf und führten neue Formen aktiver Zusammenarbeit mit der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und anderen nationalen und internationaler Menschenrechtsorganisationen ein. Diese Strategien führten dazu, dass die Ökumene sehr viel wirksamer Zeugnis für die Menschenrechte ablegen konnte und beeinflussten auch ganz erheblich die Entwicklung neuer internationaler Normen.

Im Blick auf die Achte Vollversammlung rief der ÖRK-Zentralausschuss 1993 zu einer erneuten weltweiten Überprüfung der ökumenischen Menschenrechtskonzeption und -praxis auf, um die Lehren aus zwei Jahrzehnten intensiven Engagements zu ziehen; um die neuen Herausforderungen, die sich aus den weltweiten Umwälzungen in den Jahren seit Nairobi ergeben hatten, einzuschätzen, und neue Aktivitäten in den Kirchen anzuregen, die den Menschenrechten eine geringere Priorität gegeben hatten. Auf regionaler Ebene fanden Tagungen und Seminare statt, deren Berichte dann auf einer internationalen Konsultation über "Menschenrechte und die Kirchen: Neue Herausforderungen" in Morges (Schweiz) im Juni 1998 ausgewertet wurden.

Auf früheren Vollversammlungen und ökumenischen Tagungen ist die theologische Grundlage des Engagements der Kirchen für die Förderung und der Schutz der Menschenrechte entwickelt worden: "Als Christen sind wir aufgerufen, an Gottes Mission der Gerechtigkeit, des Friedens und der Achtung der ganzen Schöpfung teilzuhaben und uns dafür einzusetzen, dass alle Menschen die Fülle des Lebens haben, die Gott für sie will. In der Heiligen Schrift, durch die Tradition und die vielfältigen Wege, auf denen der Geist heute unsere Herzen erleuchtet, erkennen wir Gottes Gabe der Menschenwürde für jeden Menschen und das jedem Menschen zustehende Recht auf Annahme und Mitwirkung in der Gemeinschaft. Daraus ergibt sich die Verantwortung der Kirche als Leib Christi, sich für die universelle Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen." (Konsultation über "Menschenrechte und die Kirchen: Neue Herausforderungen", Morges/Schweiz, Juni 1998);

"Unser Einsatz für die Menschenrechte gründet in der Überzeugung, dass Gott eine Gesellschaft will, in der jeder seine Rechte voll verwirklichen kann. Alle Menschen sind nach Gottes Bild geschaffen, sind gleich und unendlich wertvoll in Gottes und unseren Augen. Durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung hat Jesus Christus ein festes Band zwischen uns geschaffen, und was einen von uns betrifft, betrifft uns alle." (Fünfte Vollversammlung, Nairobi 1975);

"Alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihres Glaubens, sind von Gott als Individuen und in menschlicher Gemeinschaft erschaffen worden. Dennoch ist die Welt durch die Sünde verdorben, was zur Zerstörung menschlicher Beziehungen führt. Indem er die Menschheit und die Schöpfung mit Gott versöhnte, hat Jesus Christus auch die Menschen miteinander versöhnt. Nächstenliebe ist das Wesen unseres Gehorsams gegenüber Gott." (Sechste Vollversammlung, Vancouver 1983);

"Der Geist der Freiheit und der Wahrheit drängt uns, Zeugnis von der Gerechtigkeit des Reiches Gottes abzulegen und uns der Ungerechtigkeit in der Welt zu widersetzen. Wir bringen das lebendige Wirken des Heiligen Geistes zum Ausdruck, indem wir uns für die Befreiung derjenigen einsetzen, die der Sünde verfallen sind, und den Unterdrückten in ihrem Kampf um Befreiung, Gerechtigkeit und Frieden beistehen. Durch den Geist befreit sind wir fähig, die Welt aus der Perspektive der Armen und Schwachen zu verstehen, uns der Mission und dem Dienst zu widmen und unsere Güter und Gaben miteinander zu teilen." (Siebte Vollversammlung, Canberra 1991).

Die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die vom 3. - 14. Dezember 1998 in Harare (Simbabwe) tagt, nimmt die folgende Erklärung zu den Menschenrechten an:

1. Wir danken Gott für die Gabe des Lebens und für die Würde, mit der er alle seine Geschöpfe ausgestattet hat.

2. Teures Zeugnis

2.1. Wir erinnern an das Engagement und die Erfolge der Kirchen, ökumenischen Einrichtungen und Menschenrechtsgruppen bei ihren Bemühungen, die Heiligkeit des Lebens zu verteidigen, und insbesondere an das teure Zeugnis jener, die in diesem Kampf gelitten und ihr Leben verloren haben.

2.2. Das Thema dieser Vollversammlung, "Kehrt um zu Gott - seid fröhlich in Hoffnung", bestärkt uns in unserem Glauben an die dreifache Grundlage des christlichen Glaubens und Lebens: Gott wendet sich in seiner Gnade uns zu; wir antworten im Glauben und handeln in Liebe; und wir sehen der kommenden endgültigen Erfüllung der Gegenwart Gottes in der ganzen Schöpfung entgegen. Wir haben Gottes Ruf zum Erlassjahr erneut vernommen, und deshalb bekräftigen wir unser Engagement für die Menschenrechte, für die Würde und den Wert des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen und unendlich kostbar in Seinen Augen ist, und für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, junger und alter Menschen und aller Nationen und Völker. Die reiche theologische, liturgische und mystische Erfahrung der grossen Familie christlicher Traditionen lehrt uns, die Menschenrechte und die Freiheit in Glaubenstreue vor Gott und im Bewusstsein unserer Verantwortung vor dem Volk Gottes und für das Volk Gottes zu begreifen.

2.3. Wir tun dies im Geist der Busse und der Demut. Wir sind uns der zahlreichen Mängel der kirchlichen Menschenrechtsarbeit ebenso bewusst wie unserer mangelnden Bereitschaft oder unseres Unvermögens zu handeln, wenn Menschen bedroht sind oder leiden; unseres Versagens, Menschen beizustehen, die Gewalt und Diskriminierung erleiden; unserer Mitverantwortung für massive Menschenrechtsverletzungen seitens der Mächte, Gewalten und Strukturen unserer Zeit; und des Rückzugs vieler Kirchen aus der Menschenrechtsarbeit als Priorität christlichen Zeugnisses. Darum bitten wir Gott, uns Kraft für die neuen Herausforderungen zu geben.

3. Neue Herausforderungen aufgreifen

3.1. Wir danken Gott für die erheblichen Verbesserungen der internationalen Standards, die seit der Fünften ÖRK-Vollversammlung (1975) in folgenden Bereichen verwirklicht werden konnten: Rechte von Kindern, Frauen, Urvölkern, Minderheiten und entwurzelten Menschen; Schutz vor Diskriminierung, rassistischer Gewalt, Verfolgung, Folter, Gewalt gegen Frauen einschliesslich Vergewaltigung als Mittel der Kriegsführung, Entführungen, aussergerichtlichen Hinrichtungen und der Todesstrafe; bei der Entwicklung der neuen "Rechte der dritten Generation" auf Frieden, Entwicklung und bestandfähige Gemeinschaften; und schliesslich bei einem neuen Verständnis von Menschenrechten als Element des Friedens und der Beilegung von Konflikten. Trotz dieser Bestimmungen gibt es noch immer schwerwiegende Hindernisse für die Durchsetzung der Menschenrechtsstandards.

3.2. Wir anerkennen die entscheidende Bedeutung völkerrechtlicher Normen, sind jedoch ebenso wie die Sechste ÖRK-Vollversammlung (1983) der Auffassung, dass es in erster Linie um ihre Umsetzung geht. Daher fordern wir die Regierungen erneut auf, die internationalen Menschenrechtspakte und Übereinkommen zu ratifizieren, ihre Bestimmungen in innerstaatliche Gesetzgebungen und regionale Rechtsnormen zu übernehmen und effektive Mechanismen für ihre Umsetzung auf allen Ebenen zu entwickeln. Zugleich rufen wir die Kirchen auf, in ihrer eigenen Mitte für die Überwindung von Ausgrenzung und Marginalisierung zu sorgen und zu gewährleisten, dass alle uneingeschränkt am Leben und der Leitung der Kirche teilhaben können.

3.3. Globalisierung und Menschenrechte. Diese Vollversammlung befasst sich mit den akuten neuen Herausforderungen, die die Globalisierung von Wirtschaft, Kultur und Kommunikationsmittel für die Menschenrechte von Völkern, Gemeinschaften und Einzelpersonen mit sich bringt. Dazu zählen die Aushöhlung der Kompetenz des Staates, wenn es darum geht, die Rechte von Einzelpersonen und Gruppen in seinem Hoheitsbereich zu schützen, und die Schwächung der Autorität der Vereinten Nationen als Instanz, deren Aufgabe es ist, kollektive Ansätze im Menschenrechtsbereich zu garantieren und zu fördern. Die Globalisierung bedroht die menschliche Gemeinschaft durch wirtschaftliche, rassistische und andere Formen der Ausbeutung und Unterdrückung sowie durch die Schwächung der nationalen Souveränitat und des Rechtes auf Selbstbestimmung der Völker. Ihre Opfer sind vor allem die schutzlosesten Glieder der Gesellschaft. Oft werden zu allererst die Rechte der Kinder missachtet, wie die derzeitige Ausweitung der Kinderarbeit und die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen beweist.

3.4 Die Globalisierung birgt in sich aber auch Elemente, die, wenn sie wirksam genutzt werden, ihren schlimmsten Auswirkungen entgegensteuern und in manchen Bereichen menschlicher Erfahrung neue Chancen eröffnen können. Wir bitten die Kirchen nachdrücklich, gestärkte weltweite Bündnisse von Menschen, die sich zusammengeschlossen haben, um für die Menschenrechte einzutreten, zu unterstützen und sich an ihnen zu beteiligen und auf diese Weise den negativen Tendenzen der Globalisierung entgegenzutreten und ihr zu widerstehen. Die Rechte der Beschäftigten, sich in Gewerkschaften zusammenzuschliessen, Tarifverträge auszuhandeln und zur Verteidigung ihrer Interessen die Arbeit zu verweigern, müssen uneingeschränkt garantiert werden. Auf diese Weise können Menschen eine Zukunft gestalten, die sich auf die Achtung der Menschenrechte, auf das Völkerrecht und auf demokratische Mitwirkung gründet.

3.5. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Der Globalisierungsprozess macht die Notwendigkeit von bürgerlichen und politischen Rechten erneut deutlich und unterscheidet sie von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Wir bekräftigen den Standpunkt der Fünften ÖRK-Vollversammlung, die erklärte, die Menschenrechte seien unteilbar. Ohne das Grundrecht auf Leben - und dies umschliesst das Recht auf Arbeit, auf Mitwirkung in Entscheidungsprozessen, auf angemessene Ernährung und Gesundheitsversorgung, auf menschenwürdige Unterkunft, auf Bildung mit dem Ziel der Entfaltung der Persönlichkeit, und auf eine sichere Umwelt und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen - gibt es keine Rechte. Zugleich geben wir erneut unserer Überzeugung Ausdruck, dass die Wirksamkeit des Einsatzes für kollektive Menschenrechte daran zu messen ist, inwieweit er die Unterstützung sowohl von Gemeinschaften als auch von Einzelpersonen, die Opfer von Gewalt sind, sicherstellt und inwieweit er jedem Menschen Freiheit und bessere Lebensbedingungen bietet.

3.6. Die Politisierung der Menschenrechte. Wir bedauern die erneute Politisierung des Menschenrechtsdiskurses insbesondere durch die mächtigsten Staaten. Diese während der Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg übliche Praxis breitet sich nun aus und wird zu einer Art "Kulturkampf" zwischen Ländern des Nordens und Südens und des Ostens und Westens. Seine Kennzeichen sind selektive Entrüstung und eine Doppelmoral, die dazu führt, dass fundamentale Menschenrechtsgrundsätze verunglimpft und die Autorität, Neutralität und Glaubwürdigkeit von internationalen Einrichtungen, die unter der UN-Charta geschaffen worden waren, um vereinbarte Normen durchzusetzen, untergraben wird.

3.7. Die Universalität der Menschenrechte. Wir bekräftigen erneut die Universalität der in der internationalen Menschenrechtscharta niedergelegten Menschenrechte sowie die Pflicht aller Staaten, sie ungeachtet ihrer Kultur und ihres wirtschaftlichen und politischen Systems zu fördern und zu schützen. Diese Rechte wurzeln in der Geschichte von Kulturen, Religionen und Traditionen, und zwar nicht lediglich jener Staaten, die zur Zeit der Annahme der Allgemeinen Menschenrechtserklärung eine führende Rolle in den Vereinten Nationen spielten. Wir anerkennen, dass diese Erklärung als "gemeinsamer Standard" angenommen wurde und dass bei der Anwendung ihrer Grundsätze dem jeweiligen geschichtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext Rechnung zu tragen ist. Wir lehnen jedoch jeglichen Versuch von Staaten und nationalen oder ethnischen Gruppen ab, die Ausserkraftsetzung oder Einschränkung der Menschenrechtsbestimmungen im Namen von Kultur, Religion, Tradition oder besonderen sozio-ökonomischen oder Sicherheitsinteressen zu rechtfertigen.

3.8. Globale Ethik und Werte in Verbindung mit Menschenrechten. Wir bekräftigen unseren Standpunkt, dass die Kirche die Werte des Evangeliums nicht den Unwägbarkeiten des Fortschritts und der Technologie opfern darf und begrüssen die wiederholten Forderungen aus humanistischen und religiösen Kreisen nach der Ausarbeitung von gemeinsamen globalen Grundsätzen für eine soziale Ethik und soziale Werte. Die gemeinsamen Grundsätze müssen auf einer Vielfalt von Erfahrungen und Überzeugungen gründen, die über den religiösen Glauben hinausgehen und auf mehr Solidarität für Frieden und Gerechtigkeit hinwirken.

3.9. Menschenrechte und Rechenschaftspflicht. Wir bekräftigen das Recht und die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, alle staatlichen und nichtstaatlichen Akteure für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen, die innerhalb ihres Hoheits- oder Aufsichtsbereichs stattfinden oder für die sie direkt verantwortlich zu machen sind. Korrupte Praktiken sind eines der grössten Übel unserer Gesellschaften. Wir treten ein für das Recht eines jeden Menschen auf rechtlichen Schutz vor Korruption. Wir wiederholen unseren Appell an Regierungen und nichtstaatliche Stellen, im Umgang mit Menschenrechtsfragen Objektivität walten zu lassen, sich für verbesserte internationale Verfahren und multilaterale Mechanismen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte einzusetzen und, wo möglich, bei der universalen Umsetzung der Menschenrechte einen nicht auf Konfrontation, sondern auf Dialog beruhenden Ansatz zu verfolgen.

3.10. Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen. Ein wesentlicher Teil der Heilung nach Ende eines Konflikts erfolgt über das Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit für die Opfer, Vergebung und Aussöhnung in Gesellschaften, in denen es zu systematischen Menschenrechtsverletzungen kam. Wir unterstützen die Bemühungen von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen in solchen Gesellschaften bei ihrem Kampf , zu verhindern, dass Verbrechen aus der Vergangenheit straffrei bleiben, weil die Täter von offizieller Seite vor Verfolgung geschützt werden. Straffreiheit führt dazu, dass Ungerechtigkeit fortbestehen kann, was wiederum Racheakte und eine endlose Kette von Gewalt hervorruft, die bis zum Völkermord gehen kann. Diese Erfahrung wurde im Laufe dieses Jahrhunderts mehrfach gemacht.

3.11. Wir unterstützen und ermutigen die Kirchen dazu, die theologische Reflexion über das Verhältnis zwischen Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Vergebung aus der Perspektive der Opfer in Theorie und Praxis fortzusetzen, und zu versuchen, Kulturen der Straffreiheit durch Kulturen der Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit zu ersetzen. Die Gerechtigkeit für Opfer muss auch Bestimmungen zur Wiedergutmachung, Rückgabe und Ausgleich für ihre Verluste beinhalten. Wir begrüssen in diesem Zusammenhang die Übereinkunft zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs, der die internationale Gemeinschaft bei der Durchsetzung der Menschenrechte unterstützen sollte. Wir drängen darauf, dass die Kirchen sich für eine rasche Ratifizierung des Abkommens von Rom durch ihre Regierungen sowie die Übernahme seiner Rechtsprechung in die nationale Gesetzgebung einsetzen.

3.12. Abschaffung der Todesstrafe. Seit langer Zeit hat sich der ÖRK gegen die Anwendung der Todesstrafe gewandt, doch fordern die Opfer von Verbrechen in Gesellschaften, die von Kriminalität und Gewalt betroffen sind, häufig diese höchste Strafe. Die Kirchen tragen Verantwortung für die Aufklärung der Gesellschaft über Alternativen zu diesen harten und nicht mehr revidierbaren Strafen, z.B. über die Wiedereingliederung von Straftätern, und über die Notwendigkeit der strikten Einhaltung der Völkerrechtsnormen und des internalen Menschenrechtstandards zur Behandlung von Straftätern.

3.13. Menschenrechte und Friedensschaffung. Die Menschenrechte bilden die wesentliche Voraussetzung für einen gerechten und dauerhaften Frieden. Die Missachtung der Menschenrechte zieht häufig Konflikte und Krieg nach sich. Mehrmals in diesem Jahrhundert führte zügelloser, ethnisch, rassistisch oder religiös motivierter Hass zu Völkermord. Die Weltgemeinschaft hat sich immer wieder als unfähig erwiesen, dem Völkermord, wenn er einmal begonnen hat, Einhalt zu gebieten. Es müssen die Lehren aus der Vergangenheit gezogen und Mechanismen geschaffen werden, ein frühzeitiges Eingreifen ermöglichen, wenn Gefahr im Verzuge ist. Die Kirchen sind häufig in der Lage, eine aufkommende Gefahr zu erkennen, sie können aber nur dann helfen, wenn sie selbst inklusive Gemeinschaften sind, die der Botschaft des Evangeliums Folge leisten, die gebietet, unsere Nächsten auch dann zu lieben, wenn sie unsere Feinde sind.

3.14. Die Berücksichtigung der Menschenrechte bei den Bemühungen um die Verhütung oder Lösung von Konflikten durch Friedensmissionen unter der Schirmherrschaft von UNO und anderen multilateralen Gremien sind zu begrüssen. Sobald ein Konflikt beendigt werden konnte, sollten die gesellschaftlichen und rechtlichen Strukturen erneuert werden, um Pluralismus und Massnahmen zur Friedenskonsolidierung in der Bevölkerung zu fördern. Diese, wie auch die Friedensabkommen selbst, sollten internationale Menschenrechtsstandards und humanitäre Rechtsnormen beinhalten. Ihre Anwendung auf spezifische Bevölkerungsgruppen wie Streitkräfte, Polizei und Justiz sowie Sicherheitskräfte sollte gewährleistet sein.

3.15. Menschenrechte und menschliche Verantwortung. Menschenrechte und menschliche Verantwortung gehen Hand in Hand. Die Zweite Vollversammlung des ÖRK 1954 in Evanston erklärte: "Die Liebe Gottes zu den Menschen legt dem christlichen Gewissen ein besonderes Mass von Verantwortung für die Versorgung derer auf, die Opfer der Unordnung dieser Welt sind."

3.16. Die oberste Pflicht der Kirchen und anderer mit Menschenrechten befassten Einrichtungen einschliesslich der Staaten selbst ist es, auf die Verletzung von Menschenrechten zu reagieren und deren Schutz in den eigenen Gesellschaften zu verbessern. Wir stehen hier vor der Grundlage jeder ökumenischen Solidarität, die über die eigene Befindlichkeit hinausgehend Kirchen und anderen, die sich für die Menschenrechte in ihren eigenen Ländern und Regionen einsetzen, ihre aktive Unterstützung zukommen lassen. Eine wesentliche Form dieser Hilfe besteht im Kampf gegen die Ursachen von Verletzungen, die in ungerechten nationalen und internationalen Strukturen zu suchen sind oder auf Unterstützung von aussen für repressive Regimes zurückgehen.

3.17. Religiöse Intoleranz. In unserer heutigen Welt hat die Religion immer mehr Einfluss auf gesellschaftspolitische Prozesse. Viele Kirchen beteiligen sich aktiv an Massnahmen zur Friedensschaffung und Rufen nach Gerechtigkeit und bringen so eine moralische Dimension in die Politik ein. Religion ist jedoch auch zu einem wichtigen Faktor der Unterdrückung und der Verletzungen von Menschenrechten in und zwischen Staaten geworden. Religiöse Symbole und Aussagen werden dazu missbraucht, engstirnige nationalistische und sektiererische Interessen und Ziele zu fördern und rufen Spaltungen und Polarisierungen in Gesellschaften hervor. Politische Machthaber appellieren immer öfter an Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften, um enge nationale, rassistische oder ethnische Ziele zu fördern und eine diskriminierende Gesetzgebung zu unterstützen, die religiöse Intoleranz festschreibt. Wir fordern die Kirchen von neuem dazu auf, Zeugnis von der Universalität des Evangeliums abzulegen und für ihre eigenen Gesellschaften und die Welt ein Vorbild an Toleranz zu sein. Die Religion kann und muss eine positive Kraft für Gerechtigkeit, Harmonie, Frieden und Aussöhnung in der menschlichen Gesellschaft sein.

3.18. Religionsfreiheit als Menschenrecht. Wir bekräftigen die zentrale Rolle der Religionsfreiheit als menschliches Grundrecht. Unter Religionsfreiheit verstehen wir die Freiheit, eine Religion oder einen Glauben als Einzelperson oder in Gemeinschaft mit anderen frei zu wählen und seiner Religion oder seinem Glauben privat oder öffentlich in Gottesdienst, Ausübung, Praxis und Lehre Ausdruck zu Verleihen.

3.19. Dieses Recht sollte nie als ausschliessliches Recht der Kirche betrachtet werden. Das Recht auf Religionsfreiheit ist untrennbar mit anderen menschlichen Grundrechten verbunden. Keine Glaubensgemeinschaft sollte für ihre eigene Religionsfreiheit eintreten, ohne auch den Glauben und die menschlichen Grundrechte anderer aktiv zu achten. Religionsfreiheit sollte nie dazu herangezogen werden, den Anspruch auf Privilegien zu rechtfertigen. Für die Kirche ist dieses Recht eine wesentliche Voraussetzung zur Erfüllung ihrer Verantwortung, die ihr aus dem christlichen Glauben erwächst. Im Mittelpunkt dieser Aufgaben steht die Verpflichtung, der gesamten Gemeinschaft zu dienen. Die Religionsfreiheit sollte auch das Recht und die Pflicht religiöser Einrichtungen beinhalten, die herrschenden Machtstrukturen zu kritisieren und sich ihnen gegebenenfalls aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen zu widersetzen.

3.20. Religiöse Intoleranz und Verfolgung sind heutzutage weit verbreitet und stellen die Ursache von gravierenden Menschenrechtsverletzungen, zahlreichen Konflikten und grossem menschlichem Leid dar. Die Kirchen müssen durch Gebet und praktische Solidarität sowohl Christen als auch allen anderen Opfern religiöser Verfolgung Beistand leisten.

3.21. Religionsfreiheit und Proselytismus. Auch wenn das menschliche Grundrecht auf Religionsfreiheit keine Ausnahme zulässt, darf Religion nicht zu einer durch das freie Spiel der Marktkräfte regulierten "Ware" werden. Wir bekräftigen die Notwendigkeit einer ökumenischen Disziplin, insbesondere in bezug auf Länder, die sich in der schwierigen Phase des Übergangs zur Demokratie befinden und gleichzeitig von auswärtigen religiösen Bewegungen überschwemmt werden, die neue Anhänger zu werben versuchen. Wir verweisen erneut darauf, dass der ÖRK die Ausübung von Proselytismus ablehnt und fordern die Mitgliedskirchen dringend dazu auf, den Glauben und die Integrität von Schwesterkirchen zu achten und sie in ökumenischer Gemeinschaft zu stärken.

3.22. Die Rechte der Frauen. Trotz der fortgesetzten Arbeit von nationalen, regionalen und internationalen Frauengruppen und Kirchen vor allem während der ÖRK-Dekade "Kirchen in Solidarität mit den Frauen" sind die Fortschritte auf dem Weg zum wirksamen Schutz der Menschenrechte der Frauen innerhalb und ausserhalb der Kirchen langsam und häufig unzureichend. Schutz und Förderung der Rechte der Frauen sind nicht Sache der Frauen allein, sondern erfordern die fortgesetzte und aktive Mitwirkung der gesamten Kirche.

3.23. Ausgehend von unserer festen Überzeugung, bekräftigen wir, dass Frauenrechte Menschenrechte sind, dass alle Menschen nach Gottes Bild geschaffen wurden und gleiche Rechte, gleichen Schutz und gleiche Fürsorge verdienen. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass Gewalt gegen Frauen überall auf der Welt zunimmt und von rassistischer, wirtschaftlicher, kultureller, sozialer und politischer Diskriminierung sowie sexueller Belästigung bis hin zu genitaler Verstümmelung, Vergewaltigung, Frauenhandel und anderen Formen unmenschlicher Behandlung reicht und rufen Regierungen, Gerichtswesen, religiöse und andere Einrichtungen dazu auf, mit konkreten Massnahmen aufzuwarten, die die Grundrechte der Frauen sichern. Der Entwurf für ein fakultatives Zusatzprotokoll zum UN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen würde einen Mechanismus auf internationaler Ebene darstellen, bei dem von Frauen Einzelbeschwerden zu Verletzungen von Menschenrechten geführt werden könnten. Wir fordern die Kirchen dazu auf, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, dieses Protokoll zu ratifizieren.

3.24. Die Rechte entwurzelter Menschen. Zu den Hauptopfern der wirtschaftlichen Globalisierung und der Zunahme von Konflikten in der heutigen Welt zählen die entwurzelten Menschen: Flüchtlinge, Migranten und Binnenflüchtlinge. Der ÖRK und seine Mitgliedskirchen sind seit langer Zeit aktive Fürsprecher einer Verbesserung der internationalen Standards zum Schutze der Menschenrechte von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten und sollten auch in Zukunft ihre Ressourcen miteinander teilen sowie als Zeichen der unverzichtbaren Solidarität globale, regionale und lokale Netzwerkarbeit leisten. Wir fordern die Kirchen dazu auf, ihre Zusammenarbeit mit dem Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen fortzusetzen und weitere Verbesserungen bei den internationalen Standards und ihrer Durchführung anzustreben, insbesondere im Bereich des Schutzes für Binnenflüchtlinge, für die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig durchsetzbare Normen gibt.

3.25. Wir begrüssen die Eröffnung der weltweiten Kampagne zur Inkraftsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder und fordern die Kirchen dazu auf, sich gemeinsam mit ihren Regierungen für die Ratifizierung des Übereinkommens einzusetzen.

3.26. Die Rechte der Urvölker. Wir fordern die Kirchen dazu auf, das Recht der Urvölker auf Selbstbestimmung zu unterstützen, und zwar in bezug auf ihre politische und wirtschaftliche Zukunft, ihre Kultur, Landrechte, Spiritualität, Sprache, Tradition und Organisationsformen und auf den Schutz ihres Wissens einschliesslich ihrer geistigen Eigentumsrechte.

3.27. Rassismus als Menschenrechtsverletzung. Wir erkennen an, dass Rassismus eine Menschenrechtsverletzung ist und verpflichten uns persönlich und als Institutionen erneut zu seiner Bekämpfung. Wir fordern die Mitgliedskirchen dazu auf, ihre Bemühungen zu verstärken, Kirche und Gesellschaft von dieser Geissel der Menschheit zu befreien.

3.28. Die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wir bekräftigen das Recht von Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Behinderungen besondere Bedürfnisse haben, auf Chancengleichheit in allen Bereichen von Leben und Dienst der Kirche. Das Anliegen dieser Menschen fällt unter die Menschenrechte und sollte weder als Frage der Wohltätigkeit, noch des Sozial- oder Gesundheitswesens angesehen werden, wie es oft der Fall ist. Alle Mitglieder und Verantwortlichen der Kirchen sollten die Menschenrechte all derer, die mit Behinderungen leben, in vollem Umfang achten. Dazu zählt die vollständige Integration in religiöse Aktivitäten auf allen Ebenen sowie die Beseitigung physischer und psychologischer Schranken, die den Weg zu einem selbstbewussten Leben versperren. Die Regierungen auf allen Ebenen müssen ebenfalls sämtliche Hindernisse beseitigen, die einen freien Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und eine umfassende Beteiligung behinderter Menschen am öffentlichen Leben beeinträchtigen. Wir begrüssen die Schaffung eines neuen Netzwerks der ökumenischen Fürsprache für behinderte Menschen und ermutigen die Kirchen, es zu unterstützen.

3.29. Interreligiöse Zusammenarbeit zu den Menschenrechten. Die Fragen von Menschenrechtsverletzungen und Unrecht können nicht von Christen allein gelöst werden. Kollektive interreligiöse Bemühungen sind erforderlich, um gemeinsame oder komplementäre spirituelle Werte und Traditionen, die über religiöse und kulturelle Grenzen hinausgehen, im Interesse von Gerechtigkeit und Frieden in der Gesellschaft zu erforschen. Wir begrüssen die Fortschritte, die der ÖRK, im interreligiösen Dialog mit seinem Ansatz erreicht hat, bei dem die spezifischen Aspekte des christlichen Zeugnisses für Menschenrechte geachtet werden, und ermutigen die Kirchen, jede an ihrem Ort, den interreligiösen Dialog und die interreligiöse Zusammenarbeit zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte fortzusetzen und zu intensivieren.

4. Schutz der Rechte der nachfolgenden Generationen

Aus Sorge um die Zukunft der gesamten Schöpfung fordern wir die Verbesserung der internationalen Normen und Standards in bezug auf die Rechte der nachfolgenden Generationen.

4.1. Bildungsarbeit zu den Menschenrechten. Die Kirchen haben in den meisten Fällen die Tendenz, auf Menschenrechtsverletzungen zu reagieren anstatt sich pro-aktiv um ihre Verhütung zu bemühen. Angesichts dessen fordern wir die Kirchen dazu auf, sich nachdrücklicher mit vorbeugenden Massnahmen zu beschäftigen und formale, systematische Programme zur Bewusstseinsbildung und Bildungsarbeit zu den Menschenrechten anzuregen und durchzuführen.

4.2 Friedenskonsolidierung und Menschenrechte. Im gleichen Sinne fordern wir die Kirchen dazu auf, sich durch öffentliche Kontrolle, Früherkennung von Anzeichen für Menschenrechts- verletzungen und durch Bekämpfung der Ursachen an Friedenskonsolidierungsprozessen zu beteiligen.

4.3. Die Zukunft. Im Mittelpunkt der Neuverpflichtung des ÖRK auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte steht eine Vision von dauerhaften Gemeinschaften und einer gerechten, moralisch und ökologisch vertretbaren Wirtschaft. Im Ausblick auf die Zukunft erkennen wir, dass die Verwirklichung der Menschenrechte nur möglich ist, wenn wir unsere von Gott auferlegte Verantwortung auf uns nehmen, füreinander und für die Gesamtheit von Gottes Schöpfung zu sorgen. (Psalm 24).

4.4. Wir bekräftigen die zentrale Botschaft des Evangeliums, die besagt, dass in Gottes Augen alle Menschen kostbar sind, dass das Versöhnungs- und Erlösungswerk Christi allen Menschen Würde verleiht, dass Liebe der Beweggrund für Handeln und Nächstenliebe der praktische Ausdruck aktiven Glaubens an Christus ist. Wir sind Glieder an einem Leib, und wenn eines verletzt wird, sind alle verletzt. Dies ist die Verantwortung, die wir als Christen tragen, nämlich dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte eines jeden Menschen geschützt werden.


Bericht des Ausschusses für öffentliche Angelegenheiten
8. Vollversammlung und 50. Geburtstag
Urheberrecht 1998 Ökumenischer Rat der Kirchen.
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