Ökumenischer Rat der Kirchen

Achten Vollversammlung
Vollversammlungsausschüsse

Bericht des Weisungsausschusses für Grundsatzfragen II
- wie von der Achten Vollversammlung angenommen -

III. Globalisierung



Die Globalisierung ist nicht nur ein ökonomisches, sondern ebenso ein kulturelles, politisches, ethisches und ökologisches Problem.

Zunehmend sehen sich Christen und Kirchen den neuen und tiefgreifenden Herausforderungen der Globalisierung gegenüber, mit denen zahlreiche Menschen und insbesondere die Armen konfrontiert sind. Wie leben wir unseren Glauben im Kontext der Globalisierung?

Empfehlungen (Angenommen)
1. Es ist unsere tiefe Überzeugung, dass die Herausforderung der Globalisierung ein zentraler Bestandteil der Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen werden sollte. Dabei sollte man auf den zahlreichen nachdrücklichen Bemühungen aufbauen, die der ÖRK in der Vergangenheit bereits unternommen hat. Zur Vision hinter der Globalisierung gehört auch eine Vision, die im Wettbewerb mit der christlichen Vision von der oikoumene steht, der Einheit der Menschheit und der ganzen bewohnten Erde. Diese Erkenntnis sollte sich in unseren Bemühungen zur Entfaltung unseres gemeinsamen Verständnisses und unserer gemeinsamen Vision wiederschlagen und auch in den einschlägigen Aktivitäten der Mitgliedskirchen und anderen ökumenischen Gremien zum Ausdruck kommen. Wenn wir auch der Globalisierung als einer Lebenstatsache nicht aus dem Weg gehen können, sollten wir uns nicht von der dahinter liegenden Vision gefangennehmen lassen, sondern unseren alternativen Weg zur Einheit in der Vielfalt, zu einer oikoumene des Glaubens und der Solidarität festigen.

2. Die Logik der Globalisierung muss durch ein alternatives Lebenskonzept, nämlich der Gemeinschaft in Vielfalt, in Frage gestellt werden. Christen und Kirchen sollten über die Herausforderung der Globalisierung aus der Perspektive des Glaubens nachdenken und deshalb Widerstand gegen die einseitige Dominanz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung leisten. Die Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem sowie die Einführung wirksamer politischer Beschränkungen und Korrekturen des Globalisierungsprozesses und seiner Auswirkungen sind dringend erforderlich.

3. Wir würdigen den Aufruf der 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes (Debrecen 1997) zu einem engagierten Prozess der Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) im Hinblick auf wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung und wir ermutigen die ÖRK-Mitgliedskirchen, sich diesem Prozess anzuschliessen.

4. Angesichts der rechenschaftsfreien Macht transnationaler Konzerne und Organisationen, die häufig ungestraft in der ganzen Welt operieren, verpflichten wir uns, zusammen mit anderen an der Schaffung effizienter weltordnungspolitischer Institutionen zu arbeiten.

5. Es ist dringend erforderlich, dass der ÖRK in die Lage versetzt wird, kohärenter und umfassender auf die Herausforderung der Globalisierung zu reagieren. Dazu gehört insbesondere enge Zusammenarbeit und Koordinierung der Arbeit zu ökonomischen und ökologischen Themen.

6. Die Arbeit zur Globalisierung sollte auf den bestehenden Initiativen von Kirchen, ökumenischen Gruppen und sozialen Bewegungen aufbauen und diese stärken, ihre Zusammenarbeit unterstützen und sie dazu ermutigen, Massnahmen zu ergreifen und Bündnisse mit anderen Partnern in der Zivilgesellschaft einzugehen, die sich mit Themen aus dem Bereich der Globalisierung beschäftigen, insbesondere:

  • Formulierung von Alternativen zu den Aktivitäten transnationaler Unternehmen, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der Welthandelsorganisation (WTO), des Internationalen Arbeitsamtes und verwandter multilateraler Abkommen, um in kompetenter Weise sowohl die schädlichen als auch die positiven Auswirkungen ihrer Politik offenzuleben;
  • Fürsprache und Kampagnenarbeit für die Streichung der Schulden sowie eine neue Ethik und ein neues System der Kreditvergabe und -aufnahme;
  • Zusammenarbeit mit Initiativen für ein neues Finanzsystem einschliesslich einer Steuer auf finanzielle Transaktionen (Tobin-Steuer), die zur Unterstützung der Entwicklung von Alternativen verwendet werden kann, Beschränkungen des unregulierten Kapitalflusses usw.;
  • Unterstützung von Initiativen, die sich mit Arbeitslosigkeit und schlechteren Arbeitsbedingungen befassen, die infolge der Globalisierung überall auf der Welt anzutreffen sind;
  • Befähigung und Unterstützung von örtlichen Alternativen durch neue Produktionsformen, fairen Handel und alternative Bankensysteme und, speziell in hochindustrialisierten Ländern, Veränderungen im Lebensstil und im Konsumverhalten;
  • Überprüfung des Umgangs der Kirchen mit Land, Arbeitskräften, Arbeitslosigkeit und Kapital, zum Beispiel im Hinblick auf die ethisch vertretbare Geldanlage von Pensionsfonds und anderer finanzieller Mittel, die Nutzung von landwirtschaftlichen Nutzflächen usw.;
  • Förderung von wirtschaftlicher Alphabetisierung und Fachwissen über Globalisierung und verwandte Themen;
  • Nachdenken über ökonomische Probleme als Glaubenssache.


Anhang II: Der Herrschaft widerstehen - das Leben bejahen:
Die Herausforderung der Globalisierung
Globalisierung ist eine Realität der modernen Welt -- eine unausweichliche Tatsache unseres Lebens. Alle Menschen sind davon betroffen. Die Globalisierung ist nicht nur ein ökonomisches, sondern ebenso ein kulturelles, politisches, ethisches und ökologisches Problem.

Zunehmend sehen sich Christen und Kirchen den neuen und tiegfreifenden Herausforderungen der Globalisierung gegenüber, mit denen zahlreiche Menschen und insbesondere die Armen konfrontiert sind.

Die Vision hinter der Globalisierung ist eine Vision, die im Wettbewerb mit der Vision der oikoumene, der Einheit der Menschheit und der ganzen bewohnten Erde steht. Wie leben wir unseren Glauben im Kontext der Globalisierung?

Die Vollversammlung in Harare
1. Die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die in Harare stattfindet, hat während des Afrika-Plenums und des Padares den Stimmen der Menschen Afrikas zugehört. Es waren Schmerzens- und Leidensschreie zu hören, aber auch Zeugnisse des Widerstands, des Glaubens und der Hoffnung. Die bemerkenswerte Kraft, Kreativität und geistliche Lebendigkeit unserer afrikanischen Schwestern und Brüder ist eine Quelle der Inspiration für uns alle. Gemeinsam wurden wir an die Vision eines freien Volkes erinnert, die die inspirierende Kraft für Afrikas Kampf um die Befreiung vom Kolonialismus war.

2. Diese Vision lebt weiter in den Kämpfen der Menschen, sich das tägliche Brot zu sichern, sich ein Leben in ihrer Gemeinschaft zu wahren, von dem Reichtum der aus der Vergangenheit übernommenen Traditionen und Wertvorstellungen zu zehren, in harmonischer Gemeinschaft mit der Erde zu leben und Raum dafür zu finden, sich selbst auszudrücken. Menschen sehnen sich nach einem würdevollen Leben in gerechten und bestandfähigen Gemeinschaften. Wir konnten uns in die Vision und die Ziele der afrikanischen Menschen einfühlen, denn auch wenn wir aus allen Teilen der Welt zusammengekommen sind, erleben wir die gleichen Sehnsüchte.

3. In Anbetracht dieser Visionen für unsere Mitmenschen und unsere Kindeskinder ist unser Bewusstsein dafür geschärft worden, dass in mancher, fundamentaler Hinsicht das Erbe des Kolonialismus der Vergangenheit in einer neuen Form noch heute vorhanden ist – eine Form, die an der Oberfläche vielleicht verführerischer erscheint, genauer betrachtet aber erniedrigend und gefährlich ist. Hinter dieser neuen Form der Unterdrückung stehen ökonomische Kräfte, die so heimtückisch wie politische Kolonisatoren sein können und eine subtile, aber mächtige Ideologie darstellen, nach der die vielversprechendste Art der Verbesserung der Lebensqualität für alle Menschen darin besteht, den Kräften des Marktes freien Lauf zu lassen.

Konzentration der Macht
4. Trotz der Unabhängigkeit vieler früher kolonialisierter Völker konzentriert sich die Macht zunehmend in den Händen einer relativ kleinen Zahl von Staaten und Unternehmen insbesondere des Nordens. Ihre Macht reicht über den ganzen Erdball und in zahlreiche Lebensbereiche hinein. Ihre Macht ist ebenso extensiv wie intensiv. Wichtige Entscheidungen werden von diesen rund 30 Nationen und 60 Grossunternehmen getroffen. Die planvolle Globalisierung der Produktion, des Kapitals und des Handels führt zu einer weiteren Stärkung der Macht der Finanzzentren des Weltmarktes.

5. Globalisierung betrifft uns alle. Sie trägt zur Aushöhlung des Nationalstaates bei, zerstört den Zusammenhalt der Gesellschaft und verstärkt die Eroberung der Natur in einem gnadenlosen Angriff auf die Unversehrtheit der Schöpfung. Die Schuldenkrise und strukturelle Anpassungsprogramme wurden instrumentalisiert, um mehr Kontrolle über Staatshaushalte zu gewinnen und – verbunden mit unerträglichen Kosten für die betroffenen Menschen - ein profitbringendes und sicheres Umfeld für Investitionen durch die Privatwirtschaft zu schaffen.

6. Dieser Prozess wird wesentlich verstärkt durch die Entwicklung globaler Kommunikations- und Mediennetzwerke. Er geht einher mit einer sehr kostspieligen, aber erfolgreichen Strategie der USA und anderer hochentwickelter Staaten, die weltweite militärische und politische Vormachtstellung zu erlangen und zu sichern. Die Schaffung neuer Institutionen, wie der Welthandelsorganisation und des vorgeschlagenen Multilateralen Investitionsabkommens, stärkt die Macht derer, die ohnehin schon privilegiert sind. Das Zusammenkommen solcher Faktoren in den neunziger Jahren stellt eine neue Dimension einer Herausforderung für die Armen dar, die die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung ausmachen.

7. Die mit dem Prozess der Globalisierung einhergehende Homogenisierung schliesst nicht die Arbeitskräfte ein. Während Kapital ungehindert weltweit bewegt werden kann, werden gleichzeitig neue Grenzen errichtet, um die Zuwanderung von Arbeitsuchenden einzudämmen. Angesichts der Globalisierung werden Arbeitskräfte unter Kontrolle gehalten, und die Arbeiterbewegung verliert an Kraft. Auch wenn die Liberalisierung des Handels einer der höchsten Grundsätze der wirtschaftlichen Globalisierung ist, schützen die entwickelten Staaten weiterhin ihre Landwirtschaft und bestimmte Industriezweige gegen den Import von Produkten, die eine Konkurrenz darstellen könnten. Sie subventionieren ihre Exporte, häufig mit verheerenden Folgen für die nationalen Märkte des Südens.

Armut und Ausgrenzung
8. Wir sind uns bewusst, dass diese schnell voranschreitende Globalisierung potentiell positive Aspekte mit sich bringt. Wie wir gesehen haben, haben häufig neue Technologien Menschen in ihrem Kampf gegen aktuelles Unrecht und Machtmissbrauch zusammengeführt. Sie können dazu genutzt werden, die christliche Gemeinschaft auf Verfolgungen, Verletzungen von Menschenrechten, die menschlichen Nöte und akuten Notlagen aufmerksam zu machen. Erleichterte und bessere Zugangsmöglichkeiten zu anderen Regionen fördern die Solidarität zwischen sozialen Bewegungen und Netzwerken.

9. Die Befürworter des freien Marktes argumentieren, dass freie Marktwirtschaften in einer Welt, in der die dringende Notwendigkeit besteht, die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, eine bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen haben, Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Sie erkennen zwar an, dass manche Volkswirtschaften durch die engere Verbindung zur Weltwirtschaft verzerrenden Einflüssen ausgesetzt sind, betonen aber andererseits, dass diese Verbindung in manchen Fällen ein neues Wohlstandsniveau möglich gemacht hat. Solche angeblichen Vorteile der Globalisierung machen sie für die attraktiv, die eine uneingeschränkte freie Marktwirtschaft als Ausweg aus der Armut ansehen.

10. Die Realität einer ungleichen Verteilung von Macht und Reichtum, von Armut und Ausgrenzung stellt jedoch eine Herausforderung für die billige Rhetorik von einer globalen Gemeinschaft dar. Das häufig verwendete Bild vom „globalen Dorf" (global village) ist irreführend. In der neuen Situation fehlt es an genau dem Gefühl von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und gegenseitiger Verantwortung, das typisch für das dörfliche Leben ist. Weltweite Mediennetzwerke fördern eine konsumorientierte Monokultur. Die Situation vieler armer Menschen verschlimmert sich. Die Weltbank hat kürzlich festgestellt, dass sich im Laufe des vergangenen Jahres die Zahl der Länder mit einem negativen Wirtschaftswachstum von 21 auf 36 erhöht hat. Somit haben, so die Schlussfolgerung der Weltbank, Finanzpolitiken und Zinssätze wesentlich höhere soziale Kosten mit sich gebracht, als dies ursprünglich vorhergesehen wurde.

11. Nur ein kleiner Teil der eineinhalb Billionen Dollar, die täglich an den Devisenmärkten umgetauscht werden, steht in Verbindung mit wirtschaftlichen Grundaktivitäten. Der Löwenanteil davon ist reine Finanzspekulation, keine wirkliche Investition. Diese Spekulation schwächt die ohnehin angeschlagenen Volkswirtschaften. Massive Spekulation hat zum Zusammenbruch der Finanzmärkte in Asien geführt und stellt ein Risiko für die Weltwirtschaft insgesamt dar.

12. Das Leben der Menschen ist schutzloser und unsicherer geworden als je zuvor. Die Ausgrenzung in all ihren Formen erzeugt Gewalt, die sich wie eine Krankheit ausbreitet. Die Zahl der verzweifelt nach Arbeitsplätzen und einem Bleibeort für ihre Familien suchenden Migranten wächst dramatisch an. In den Industriestaaten Europas und Nordamerikas nehmen die Armutsgebiete an Zahl und Grösse zu. Überall wird die Kluft zwischen Arm und Reich grösser und macht die Urvölker, Frauen, Jugendliche und Kinder zu den Hauptopfern von Armut und Ausgrenzung. Die grosse Mehrheit der Ausgegrenzten sind unweigerlich farbige Menschen, die als Zielscheiben für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Unterdrückung dienen.

Widersprüche, Spannungen und Ängste
13. Die Globalisierung lässt ein Netz von Widersprüchen, Spannungen und Ängsten entstehen. Die systembedingte Verzahnung von lokalen und globalen Elementen in diesem Prozess hat in vieler Hinsicht eine neue Dynamik erzeugt. Sie hat zur Konzentration von Macht, Wissen und Reichtum in Institutionen geführt, die von transnationalen Firmen kontrolliert oder zumindest beeinflusst werden. Sie hat aber auch eine Dynamik der Dezentralisierung ausgelöst: Menschen und Gemeinschaften kämpfen darum, die Kontrolle über die Kräfte, die ihre blosse Existenz bedrohen, wiederzuerlangen. Angesichts der Veränderungen und des starken Drucks, dem Menschen in ihrer Existenz und ihrer Kultur ausgesetzt sind, wollen sie ihre kulturelle und religiöse Identität bekräftigen. Während die Globalisierung einerseits Aspekte des modernen gesellschaftlichen Lebens universalisiert hat, verursacht und schürt sie andererseits die Zersplitterung des sozialen Gefüges der Gesellschaften. Je weiter dieser Prozess vorangeht, desto mehr verlieren die Menschen ihre Hoffnung, und sie treten in Konkurrenz zueinander, um sich Vorteile aus der Weltwirtschaft zu sichern. In manchen Fällen hat diese Realität zu Fundamentalismus und ethnischer Säuberung geführt.

Neoliberale Ideologie
14. Die wirtschaftliche Globalisierung basiert auf der neoliberalen Ideologie. Das Credo des freien Marktes ist die feste Überzeugung, dass durch die Konkurrenz von wirtschaftlichen Kräften und Absichten eine ‘unsichtbare Hand' das bestmögliche Ergebnis herbeiführt, wenn jedes Individuum nur auf seinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedacht ist. Nach dieser Anschauung werden Menschen als Individuen und nicht als Glieder einer Gemeinschaft angesehen, als notwendig in Konkurrenz zueinander stehend und nicht kooperativ, als konsumorientiert und materialistisch und nicht geistlich ausgerichtet. So hat dieses Credo ein gnadenloses System entstehen lassen, das Menschen überflüssig macht und sie aufgibt, wenn sie nicht mit den wenigen Mächtigen in der Weltwirtschaft konkurrieren können.

15. Als Folge daraus verlieren viele Menschen ihre kulturelle Identität und leugnen ihre politische und ethische Verantwortung. Mit seinem Versprechen, Reichtum für jeden zu schaffen und den Traum von grenzenlosem Fortschritt zu erfüllen, zeichnet der Neoliberalismus ein Bild der Erlösung der Welt. Besessen von den steigenden Einnahmen aus den Finanzmärkten, der Ausweitung des Handels und dem Wachstum der Produktion, ist das Weltwirtschaftssystem blind für seine zerstörerischen sozialen und ökologischen Konsequenzen.

Eine Herausforderung für die Kirchen und die ökumenische Bewegung
16. Die Globalisierung stellt eine seelsorgerische, ethische, theologische und geistliche Herausforderung für die Kirchen und die ökumenische Bewegung im besonderen dar. Die Vision hinter der Globalisierung steht in Konkurrenz zur Vision der oikoumene, der Einheit der Menschheit und der ganzen bewohnten Erde. Die globalisierte oikoumene der Herrschaft bildet einen Gegensatz zur oikoumene des Glaubens und der Solidarität, die die motivierende Kraft und die Triebfeder für die ökumenische Bewegung darstellt. Die Logik der Globalisierung muss durch ein alternatives Lebenskonzept der Gemeinschaft in Vielfalt in Frage gestellt werden.

17. Pluralität und Vielfalt innerhalb der ökumenischen Bewegung beispielsweise werden nicht mehr als Hindernis für die Einheit der Kirchen und für ein Überleben der Menschheit angesehen. Die Vielfalt bietet reiche Ressourcen und Optionen für durchführbare Lösungen, wenn die Geschichten, Erfahrungen und Traditionen anderer Menschen anerkannt werden und einzelne Christen, ökumenische Gruppen und Kirchen gemeinsam nach Alternativen suchen, die das Leben auf der Erde bejahen und erhalten. Auch der traditionelle Begriff der Katholizität der Kirche verdient neue Aufmerksamkeit. Theorie und Praxis der Katholizität können als frühe Form einer christlichen Antwort auf die imperiale Form der Einheit, die durch das Römische Reich geprägt und vertreten wurde, verstanden werden. Eine solche Alternative zur imperialen Macht ist wichtig für die Bekräftigung der ökumenischen Dimension im Leben der Kirchen im Kontext der Globalisierung.

Das Erlassjahr und die Globalisierung
18. In diesen Tagen der Vollversammlung sind wir häufig an das Erlassjahr erinnert worden, eine Zeit der Befreiung, der Wiederherstellung gerechter Beziehungen und des Neubeginns (3. Mose 25, Jes 61, Lk 4). Mit dem Erlassjahr wird anerkannt, dass Macht, wenn man sie ihrem normalen und ungehinderten Lauf überlässt, sich immer stärker in einigen wenigen Händen konzentriert, dass ohne ein Eingreifen jede Gesellschaft in die Ungerechtigkeit abgleitet. Wie es in der hebräischen Bibel heisst, "bringen" die Mächtigen "ein Haus zum anderen und rücken einen Acker an den anderen" (Jes 5,8). Die Schwachen und Armen sind schutzlos, werden marginalisiert und ausgegrenzt. Die Wiederherstellung gerechter Beziehungen bedingt, gegen diesen Lauf der Geschichte anzugehen (Mi 7, Neh 5). Die Unversehrtheit der Menschen und eines Volkes bedarf des Eingreifens, der regelmässigen Unterbrechung des gewöhnlichen Laufs der Dinge.

19. Das Erlassjahr hat wichtige Implikationen für unsere Überlegungen zur Globalisierung heute. Die Globalisierung erscheint normalerweise als etwas Positives, ja sogar Vorteilhaftes, besonders wenn man Nutzniesser dieses Prozesses ist. Aber die zunehmende Konzentration der - ökonomischen, politischen, kulturellen und militärischen - Macht lenkt die Welt der Gegenwart und der Zukunft auf dramatische Weise in eine Richtung, die nicht positiv ist. Der Skandal der erdrückenden Schulden, die Marginalisierung und Ausgrenzung zahlreicher Schwestern und Brüder, die Ausbeutung von Frauen und Kindern, die zusätzliche Belastung von Minderheiten, die darum kämpfen müssen, ihre Kultur, religiöse Tradition und Sprache am Leben zu erhalten, die Zerstörung des angestammten Landes der Urvölker und ihrer Gemeinschaften - all dies ist auch ein Ausdruck der Machtkonzentration, die mit einem besseren Lebensstandard gerechtfertigt wird.

Gottes Gabe des Lebens bejahen
20. Es ist heute notwendiger als je zuvor, eine grundlegende Neuordnung des Wirtschaftssystems zu fordern und Gottes Gabe des Lebens, die von so vielen Seiten bedroht ist, zu bejahen. Weder beschneidet bisher die nachhaltige Entwicklung - ein Konzept, das in internationalen Foren einen so hohen Stellenwert einnimmt - die Vormachtstellung der mächtigen Kräfte der Globalisierung noch stellt sie den dahinterstehenden Grundsatz des steten, grenzenlosen Fortschritts und Wachstums in Frage. Wenn man Gottes Gabe des Lebens für die ganze Schöpfung inmitten des Leidens und der Zerstörung, die ihre Ursache in der wirtschaftlichen Globalisierung haben, bejahen will, dann braucht man eine auf das Leben gerichtete Vision.

21. Jesus ist gekommen, damit alle das Leben und vollere Genüge haben sollen (Joh 10,10). Gottes Erlösung in Jesus Christus bedeutet nicht nur die Fülle des Lebens für die menschliche Gemeinschaft, sondern die Wiederherstellung der Unversehrtheit der ganzen Schöpfung. Gottes Heiliger Geist ist gekommen, um die ganze Schöpfung zu erneuern. Nach den Schöpfungsgeschichten der Bibel sollte die Erde als Heimat für alle Lebewesen dienen, die in unterschiedlichen Lebensräumen zu Hause, aber miteinander in einem Beziehungsgeflecht verbunden sind. Die menschliche Gemeinschaft steht im weiteren Kontext der Erdengemeinschaft, die in Gottes Haushalt des Lebens verankert ist. Gerade diese Vision einer wahrhaft ökumenischen Erde fordert die ökumenische Bewegung dazu heraus, nach anderen Wegen zu einem neuen Leben und zum Schutz der Gemeinschaften der Urvölker und der Marginalisierten und Ausgegrenzten zu suchen, sich am Widerstand gegen die wachsende Herrschaft der wirtschaftlichen Globalisierung zu beteiligen und sich in dem Aufbau einer Kultur des Friedens und gerechter Beziehungen, einer Kultur des Teilens und der Solidarität zu engagieren.

22. Die Geschichten der Völker spiegeln die Sehnsucht nach dem Erhalt des Lebens durch die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse aller Menschen wider, die Sehnsucht nach einem Schutz des Lebens durch die Schaffung von Frieden in Situationen von Gewalt und Krieg, die Sehnsucht nach einer Stärkung des Lebens durch die Stärkung der Verantwortung in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft und die Verbesserung des wirtschaftlichen Wohls der Menschen dank grösserer Chancen und stärkerer solidarischer Verbindungen, die Sehnsucht nach einer Bereicherung des Lebens - einerseits durch die Vertiefung der Spiritualität und der kulturellen Aktivitäten der Menschen, andererseits durch den Aufbau gerechter und bestandfähiger Gemeinschaften.

23. Vier Grundbedingungen für eine auf das Leben gerichtete Vision müssen erfüllt werden: Mitwirkung als die optimale Einbeziehung aller Beteiligten auf allen Ebenen, Gleichberechtigung als eine grundlegende Gerechtigkeit, die sich auch auf andere Lebensformen bezieht, Rechenschaftspflicht als gestaltendes Element von Verantwortung füreinander wie auch für die Erde, Masshalten als die Verpflichtung, die Grundbedürfnisse allen Lebens zu erfüllen und eine Lebensqualität zu entwickeln, die Brot für alle einschliesst, aber mehr ist als nur Brot allein.

Aufgabe der ökumenischen Familie
24. Wie sollte die Reaktion der Kirchen auf diese Herausforderung aussehen? Was ist die Aufgabe der ökumenischen Familie? Welche Rolle sollten die Kirchen durch den Ökumenischen Rat der Kirchen einnehmen? Wie sollten sich die Kirchen und der ÖRK gegenüber anderen verhalten, die darum ringen, die Herausforderungen durch die Globalisierung zu verstehen und ihnen entgegenzutreten? Wie können wir Werkzeuge von Gottes Erlassjahr sein, das so zentral für die Botschaft Jesu ist (Lk 7,18-23)? Diese Fragen muss jede/r der Anwesenden und jede hier vertretene Gruppe für sich beantworten.

25. Wir erkennen an, dass wir im Kontext der Globalisierung unsere eigenen Überzeugungen aufs Spiel gesetzt haben. Wir bereuen, dass die Macht der neuen Technologien, die Verlockung des Besitzes, die Versuchungen der Überlegenheit und der Macht unsere Aufmerksamkeit von unserem notleidenden Nächsten abgelenkt haben. Wir geben zu, dass wir versucht sind, um unseren eigenen Platz in einer Welt zu kämpfen, die nur Raum für einige wenige Privilegierte hat. Damit unser Bekenntnis und unsere Busse keine leeren Worte sind, müssen wir zu unserer Solidarität mit den Ausgegrenzten zurückfinden.

26. Es ist Aufgabe des ÖRK, die ökumenische Dimension im Leben der Kirchen zu stärken und Raum für Dialog und gegenseitige Unterstützung zu schaffen, damit Kirchen auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene gemeinsames Zeugnis ablegen können. Die Stimme und das Gewicht des ÖRK auf internationaler Ebene müssen gestärkt werden, ein Gewicht, das auf der Fähigkeit aufbauen kann, globale Entwicklungen zu analysieren, das aber auch davon abhängt, welche Netzwerkarbeit, Unterstützung und Veränderungen der ÖRK als Instrument der Kirchen leisten bzw. herbeiführen kann. Entscheidend für die Vision von der Erde als Heimat ist der Aufruf an Menschen in sehr unterschiedlichen Situationen und Lebenskontexten, ihren Glauben in Solidarität zu praktizieren und sich für das Zusammenleben auf der Erde einzusetzen.

27. Rückblickend wird deutlich, dass sich die verschiedenen Programmbereiche des ÖRK seit der Siebten Vollversammlung in Canberra immer stärker der Herausforderungen und der Gefahren bewusst werden, die mit dem Prozess der Globalisierung verbunden sind. Der neue Zentralausschuss und alle Mitgliedskirchen sollten dazu aufgefordert werden, geschlossener auf die Herausforderungen durch die Globalisierung zu reagieren. Im Mittelpunkt sollte dabei ein würdevolles Leben in gerechten und bestandfähigen Gemeinschaften stehen.

Neuere Veröffentlichungen des ÖRK zur Frage der Globalisierung und zu anderen wirtschaftlichen Themen

  1. Tony Addy (ed), The Globalizing Economy: New Risks-New Challenges-New Alliances, ÖRK-Einheit III: Genf, 1998
  2. Tony Addy (ed), The Globalizing Economy: New Risks-New Challenges-New Alliances. Summary of Recommendations, ÖRK-Einheit III: Genf, 1998
  3. Bas de Gaay Fortman/Berma Klein Goldewijk, God and the Goods: Global Economy in a Civilizational Perspective, ÖRK: Genf, 1998
  4. Richard Dickinson. Economic Globalization: Deepening Challenge for Christians, ÖRK-Einheit III, Genf, 1998
  5. Rob van Drimmelen, Faith and the Global Economy Today, ÖRK: Genf, 1998
  6. Samuel Kobia, The Changing Role of the State and the Challenge for Church Leadership in Africa, in: Echoes 14, ÖRK-Einheit III: Genf, 1998, S. 8-11
  7. Julio de Sant Ana, Sustainability and Globalization, ÖRK: Genf, 1998
  8. ÖRK-Einheit III (ed), Dossiers I and II on Multilateral Agreement on Investment, Genf, 1998
  9. ÖRK-Einheit III (ed), Featuring Globalization, Echoes 12, Genf, 1997

Bericht des Weisungsausschusses für Grundsatzfragen II
8. Vollversammlung und 50. Geburtstag
Urheberrecht 1998 Ökumenischer Rat der Kirchen. Für Kommentare: webeditor