Fünfzigjähriges Bestehen des ÖRK und Achte Vollversammlung
Feature-Reihe
no. 8
Erlassjahr und Padare: Herausforderungen der Vollversammlung
Myra Blyth


Die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen findet im 50. Jahr seines Bestehens statt und ist somit eine Jubiläumsvollversammlung. Sie bietet den Vertretern und Vertreterinnen der Kirchen aus aller Welt eine einmalige Gelegenheit, mit Schwestern und Brüdern in Afrika zusammenzutreffen. Gemeinsam werden sie sich vom 3.-14. Dezember in Harare (Simbabwe) darum bemühen, einem unruhigen Kontinent die Verheissung des Erlassjahres [Der englische Begriff "jubilee" kann sowohl Jubiläum als auch Erlassjahr (3. Mose 25) bedeuten und legt von daher die Verbindung zwischen Jubiläumsvollversammlung und Erlassjahr nahe (Anm. d. Übers.)] zu bringen, das Versöhnung, Wiederherstellung und Erneuerung bedeutet.

Eine wichtige Aufgabe wird es dabei sein, die afrikanische Tradition und Kultur wieder einzufordern und neu zu interpretieren. Für die Menschen in Simbabwe gibt es in einer ihrer alten Traditionen einen besonders wichtigen Brauch: den Padare. Der Padare ist der Ort, wo Probleme vor die Gemeinschaft gebracht und im offenen Dialog und gegenseitigen Respekt ein Konsensus angestrebt wird.

"Dare" ist in der Sprache der Shona dieser besondere Treffpunkt, der vor der Kolonialzeit eine gängige Einrichtung auf vielen Ebenen in der simbabwischen Gesellschaft war.

Auch innerhalb der Familie gab es einen "Dare": Zeit und Ort, wo sich die Männer trafen, zusammen mit den Knaben der Familie, ein Platz zum Ruhen und auch zum Essen. Und es war ferner der Ort, wo Ratschläge erteilt und Fähigkeiten vermittelt wurden, wo die Älteren ihr Wissen an die Jüngeren weitergaben.

Die Frauen in der Familie hatten - gtrennt von den Männern - ebenfalls ihren Treffpunkt, "Kutandare" genannt.

Auch auf Dorfebene war der Padare hauptsächlich ein Männertreffen, das dazu diente, Gemeinschaft aufzubauen, die Jüngeren zu beraten und in Streitfällen Recht zu sprechen.

Heute würde man solche nach Geschlechtern getrennte Treffen nicht mehr für erstrebenswert halten. Aber es gibt andere Aspekte dieser Shona-Tradition des Padare, die von der simbabwischen Bevölkerung wieder aufgewertet und eingefordert werden.

Der "Dare" war ein Ort, wo alle Teilnehmenden gleichberechtigt waren. Es war ferner ein Ort des Konsens, und niemals wurden Entscheidungen hastig getroffen, denn das hätte den Aufbau von Gemeinschaft verhindert.

Eine junge Simbabwerin erklärte mir neulich, dass der höchste Wert der Padare-Tradition in ihrem Potential zu suchen sei, alternative Wege zu Frieden, Versöhnung und Gemeinschaft zu eröffnen.


Dorfversammlung in Gweru, Simbabwe (1984)
Best.-Nr. 2818-14

Es ist kein Zufall, dass die Dare-Tradition in der Kolonialzeit beendet wurde. In jener Zeit wurden die traditonellen Häuptlinge zu Beamten gemacht, die von der Regierung bezahlt wurden und dieser - nicht mehr dem Volk - Rechenschaft schuldeten. Streitigkeiten wurden nicht mehr gemeinschaftlich beigelegt, sondern durch Gerichte.

Wie viele andere Gesellschaften auch, können es sich die Simbabwer von heute nicht leisten, ihre Traditionen oder ihre Vergangenheit romantisch zu verklären, und wollen dies auch nicht; aber sie wollen sich an ihre Traditionen erinnern und sie respektieren und neuen Bedürfnissen und Umständen anpassen.

Deshalb haben die simbabwischen Gastgeber der Achten Vollversammlung des ÖRK vorgeschlagen, das während der Vollversammlung geplante offene Programm "Padare" zu nennen und an dessen zentralen und positivsten Merkmalen festzuhalten: Gleichberechtigung, Konsensus und Gemeinschaft.

Die Idee eines offenen Programms ist für ÖRK-Vollversammlungen nicht neu, aber die Gestaltung dieses Programms als Padare bringt eine neue Dimension in die Vollversammlung. Bei der Entwicklung des Padare-Konzepts für die Vollversammlung erkannte der Planungsausschuss das Potential dieser Tradition, der Welt ein neues Modell vorzustellen. Padare ist ein Dialog- und Konsultationsstil, der eher mehr als weniger Menschen einbezieht. Er betont die Würde und Gleichheit aller Versammelten und stellt klar heraus, dass bei der Suche nach Einheit und Verständigung die Reise genauso wichtig ist wie das Ziel, Beratung und Dialog ebenso wichtig wie Entscheidungen und Schlussfolgerungen.

Das Padare-Modell ist auch deshalb besonders geeignet, weil es das neue Denken in der ökumenischen Bewegung symbolisiert. In den jüngeren ökumenischen Diskussionen wird mehr Gewicht auf das Knüpfen von Beziehungen gelegt als auf strukturelle oder lehrmässige Übereinkommen. Der Padare hat einiges dafür zu bieten, wie wir auch in Zeiten von Meinungsverschiedenheit und Konflikt Beziehungen pflegen und Gemeinschaft aufrechterhalten können.

Der Padare, der eines der besten Charakteristika der Shona-Tradition ist und zugleich die Bedeutung widerspiegelt, die in ökumenischen Kreisen heute dem Dialog anstelle von Entscheidungen eingeräumt wird, verspricht sowohl als Symbol als auch in der Praxis eines der wichtigsten Merkmale der Vollversammlung zu werden.

Fünf Tage lang wird es auf dem Padare - in dem inhaltlichen Rahmen sechs grosser Themen - mehr als 400 Veranstaltungen geben. Einige dieser Veranstaltungen werden Seminare oder Workshops sein, während andere auf die darstellenden Künste zurückgreifen.

40 Vorstellungen sind allein im Theater der Universität vorgesehen: Drama, Tanz, Musik und Poesie. Die simbabwischen Gastgeber planen als eine ihrer zahlreichen Veranstaltungen eine Theateraufführung, die das Leben eines simbabwischen Märtyrers erzählt.

Weiter ist ein breites Spektrum von Workshops geplant, einschliesslich Debatten zum 50jährigen Bestehen der UN-Erklärung der Menschenrechte sowie Geschichten und Erfahrungsberichte von Kirchen und Gemeinschaften in aller Welt, die sich angesichts von Zersplitterung und Gewalt um den Aufbau einer Friedenskultur bemühen.

Besucher/innen und Delegierte werden sich auf dem Padare auch mit dem Thema Globalisierung und Schulden befassen und aufgefordert werden, sich mit vielen anderen Menschen auf der ganzen Welt zusammenzuschliessen, um für die Streichung der Schulden der ärmsten Länder bis zum Jahr 2000 einzutreten. Die Kinder von Harare werden zusammen mit Kindern aus allen Teilen der Welt die Kirchen einladen, ihre Arbeit mit Kindern neu zu überdenken, damit die marginalisierten und ausgebeuteten Kinder der Welt Würde und Mitspracherecht erhalten.

DIE PADARE-THEMEN

Frieden und Gerechtigkeit: Themen, mit denen sich die Kirchen in einer von Konflikten, Gewalt und Globalisierung geprägten Welt und bei ihren Bemühungen um den Aufbau versöhnter Gemeinschaften auseinandersetzen müssen.

Einheit: Themen, die sich im Zusammenhang mit Gottesdienst, Spiritualität, der sichtbaren Einheit der Kirche sowie Ekklesiologie und Ethik stellen.

Gemeinsam auf dem Weg: Themen im Zusammenhang mit der Kommunikation innerhalb der ökumenischen Bewegung und ihrer Vermittlung nach aussen, mit konziliarer Ökumene und mit dem Verständnis der einen ökumenischen Bewegung.

Lernen: Themen im Zusammenhang mit interreligiösen Beziehungen sowie mit christlicher Erziehung und ökumenischer Bildungsarbeit in einem von kultureller und religiöser Vielfalt geprägten Umfeld.

Zeugnis: Themen im Zusammenhang mit der Vermittlung des Evangeliums durch Gesundheitsarbeit, Zeugnis und Evangelisation sowie mit dem Problem des Proselytismus.

Solidarität: Themen im Zusammenhang mit dem Engagement der Kirchen für den Schutz der Umwelt, für den Aufbau gerechter und bestandfähiger Gemeinschaften und für konkrete Bemühungen um Selbstbestimmung und den Aufbau von Kapazitäten.

Neben Gerechtigkeit und Frieden werden auf dem Padare auch Themen angesprochen im Zusammenhang mit Glaube und Einheit, Gebet und Gottesdienst, dem Wesen der Kirche, dem Profil der Mission sowie der Beziehung zwischen Evangelium und Kultur. Hier sind grössere Veranstaltungen geplant, die sich mit den Ergebnissen der Fünften Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung (Santiago de Compostela, Spanien, 1993) und der Konferenz für Weltmission und Evangelisation (Salvador de Bahia, Brasilien, 1996) befassen.

Als offenes Programm ist der Padare nicht Teil der offiziellen Entscheidungsstrukturen der Vollversammlung. Dort werden keine Berichte geschrieben und keine Empfehlungen formuliert. Es wird jedoch damit gerechnet, dass viele Anliegen, die in Rahmen des Padare zur Sprache gebracht werden, die Herzen und Gemüter der Teilnehmenden bewegen werden, die danach als Delegierte in den offiziellen Geschäftssitzungen der Vollversammlung mitarbeiten.

Als ein Ort der Begegnung und des Dialogs wird der Padare daher mit dazu beitragen, dass die künftigen Perspektiven und Prioritäten, die die Mitgliedskirchen in den ÖRK einbringen, die Anliegen von ganz normalen Christen und Christinnen auf der ganzen Welt widerspiegeln.



Informationen für Redacteure und Journalisten

Pfrin. Myra Blyth ist Baptistenpfarrerin aus Grossbritannien und Direktorin der ÖRK-Einheit IV "Teilen und Dienst". Sie führt den Vorsitz der Planungsgruppe für den Padare. Frau Blyth steht für weitere Auskünfte und Gespräche gerne zur Verfügung. Wir machen Rundfunkjournalisten darauf aufmerksam, dass unser Tonstudio über einen ISDN-Anschluss (CCS Codec M66I 64K) verfügt.

Bei Verwendung des Artikels muss Myra Blyth als Autorin angegeben werden. Der Artikel darf nur von der Redaktion gekürzt werden, wenn dies vermerkt wird. Bitte schicken Sie uns für jede Veröffentlichung unseres Materials ein Belegexemplar.

Fotos zur Illustrierung des Artikels können beim ÖRK bestellt werden. Fotos, die für den Artikel verwendet werden, sind kostenlos. Verwenden Sie die Fotos in einem anderen Zusammenhang, sind die üblichen ÖRK-Gebühren zu zahlen.

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Die Logos für die Vollversammlung und das 50jährige Bestehen des ÖRK können bei Zugang zum Internet (www) direkt von unserer Homepage (http://www.wcc-coe.org/wcc/assembly/index-g.html) kopiert oder aber für den Postversand bei uns bestellt werden.


John Newbury
ÖRK-Presse- und Informationsreferent
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