Ökumenischer Rat der Kirchen
ZENTRALAUSSCHUSS
Potsdam, Deutschland
29. Januar - 6. Februar 2001
Dokument Nr. GS 1.2


Zur Beschlussfassung / Sperrfrist: Frei nach Vorlage im Plenum

BERICHT DES VORSITZENDEN

Die Achte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die am Ende des gewalttätigsten Jahrhunderts in der Geschichte der Menschheit und an der Schwelle zum dritten Jahrtausend stattfand, erklärte 2001-2010 zur Dekade zur Überwindung von Gewalt. Im Anschluss an diesen Aufruf sandte der Zentralausschuss während seiner letzten Tagung im August 1999 einen Brief an die Kirchen, in dem er sie an den Beschluss der Vollversammlung erinnerte und sie aufrief, aktiv und verantwortlich in der Dekade mitzuwirken. Zusammen mit dem Brief wurde den Kirchen ein ausführlicheres Dokument in Form einer "Botschaft" des Zentralausschusses mitgesandt. Darin unterstrich der Zentralausschuss die Bedeutung und Dringlichkeit der Dekade, beschrieb ihre Ziele und unterbreitete den Kirchen und der ökumenischen Bewegung Fragen zur Prüfung und Beschlussfassung. Auf seiner jetzigen Tagung wird der Zentralausschuss die Dekade zur Überwindung von Gewalt offiziell eröffnen.

Auf die eine oder andere Weise ist die Frage der Gewalt immer auf der ökumenischen Tagesordnung gewesen. Und sie ist heute komplexer und explosiver als je zuvor. Zu Beginn dieses wichtigen Prozesses, der den Rat in seinem Leben und Zeugnis vor eine große Herausforderung stellt, scheint es mir angebracht, Ihnen einige persönliche Überlegungen zu diesem Thema zu unterbreiten.

GEWALT VERSTEHEN

Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, eine anthropologische und soziologische Analyse von Gewalt vorzunehmen. Ich werde mich vielmehr auf die Frage konzentrieren, wie Gewalt überwunden werden kann. An dieser Stelle ist es wichtig, einige Gedanken und Fakten zur Frage der Gewalt anzuführen.

1) Gewalt ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen vor. Es gibt Gewalt in unseren Familien, in unseren gesellschaftlichen Strukturen und Kirchen, in unserer Nachbarschaft und in uns selbst. Dadurch, dass Gewalt auch zu einem globalen Phänomen geworden ist, hat dieses Problem eine neue Dimension und Dringlichkeit bekommen. Die zunehmende Welle globaler Gewalt gefährdet die Umwelt und überrollt alle Gesellschaften. Die Aufspaltung der Welt in zwei Lager ist beendet, und doch gibt es immer mehr Kriege. Nationen brechen auseinander, Grenzen werden neu gezogen, Landkarten neu gezeichnet. Ethnische, nationale und religiöse Vorurteile lösen gewalttätige Konflikte aus und Hass spaltet die Gesellschaft. Gewalt wirkt sich auch auf unsere Theologie, unsere Spiritualität, unser Selbstverständnis als Christen und Kirchen aus.

2) Gewalt bedeutet Aggression, Missbrauch körperlicher, emotionaler oder seelischer Gewalt mit der Absicht, Schaden zuzufügen. Angst, Hass, Ungerechtigkeit, Unsicherheit und Vorurteile gehören zu den Hauptursachen von Gewalt. Gewalt ist rassen- und klassenübergreifend, es gibt sie in allen Kulturen und in allen Religionen. Sie ist multidimensional und vielgestaltig; sie unterscheidet sich in ihren Ausdrucksformen - je nach Kultur, Kontext und Person. Im Allgemeinen kann man zwei Hauptformen von Gewalt unterscheiden: direkte oder persönliche und strukturelle Gewalt. Diese beiden Typen von Gewalt stehen in Wechselbeziehung zueinander, sind Ursache und Wirkung zugleich. Gewalt reicht von polizeilicher Brutalität zu militärischen Interventionen, von männlicher Vorherrschaft zu unterschiedlichen Formen von Rassismus, von Aufständen zu inter-ethnischen Konflikten, von Schießereien zu Vergewaltigungen, etc.. Gewalt ist auch fest in einigen Regierungssystemen verankert und ist als Instrument zur Aufrechterhaltung von Privilegien und Macht zu einem integralen Bestandteil verschiedener Ideologien, Strukturen, politischer Programme und Maßnahmen geworden. Hass gegen andere Rassen und Ethnien kann sogar zu Genozid und ethnischen Säuberungen führen, wie wir es in Ruanda, Bosnien und dem Kosovo gesehen haben. Globalisierung und die damit einhergehende Hegemonie von transnationalen Unternehmen, unkontrollierten Finanzinstitutionen und weltweiten Massenmedien sind zu einer neuen Quelle der Gewalt geworden. Ganz allgemein kann man sagen, dass die ungleiche Verteilung der Ressourcen in einer Gesellschaft und der ungerechte und willkürliche Einsatz von Gewalt als wichtige Faktoren bei der Entstehung von Gewalt angesehen werden können. Aufgrund der weiten Verbreitung und der weitreichenden Konsequenzen von Gewalt in ihren verschiedenen Formen muss man heute von einer "Kultur der Gewalt" sprechen, die die Menschen entmenschlicht und die Schöpfung zerstört.

Wie sollen wir auf diese lebensbedrohende Geißel der Menschheit reagieren? Die christliche Antwort auf Gewalt ist von jeher ambivalent und unklar gewesen. Es ist notwendig, angemessene hermeneutische und kontextuelle Ansätze zu finden, um das Problem der Gewalt sowohl in seinem konkreten Umfeld als auch in einer holistischen Perspektive zu verstehen. Schauen wir uns zunächst an, was die Bibel dazu sagt und welche Weisung sie uns gibt.

DIE BIBEL: UNSER BEZUGSPUNKT

Gewalt ist sowohl im Alten als auch im Neuen Testament ein wichtiges Thema. Gewalt bedeutet, Schaden zuzufügen, Böses zu tun, Ungerechtigkeit walten zu lassen, ist gleichbedeutend mit Sünde und menschlicher Bosheit gegen Gott und andere Menschen (1.Mose 6, 11-13; Spr 4, 17; Jes 59,6). Das Gegenteil davon sind Frieden und Erlösung. Gott erlöst die, die an ihn glauben, aus Gewalt und Frevel und führt sie in die Befreiung (2. Sam 22, 3; Ps 72,14). Mehrfach wird Gott auch gewaltsames Handeln zugeschrieben: er wird als Kriegsmann beschrieben (2. Mose 15,3); er kämpft gegen das auserwählte Volk (Klgl 2,5). Das Neue Testament enthält Stellen, in denen Gewalt legitimiert wird, wie die Tempelreinigung (Mt 21, 12ff), die Austreibung böser Geister (Mk 5; Joh 12, 31; 16, 11), die verbale Gewalt, die in den Gleichnissen vom Gericht (Mt 25) und der Hochzeit (Mt 22) und in Jesu Worten "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt 10, 34ff) zum Ausdruck kommt. Es gibt ferner Stellen, in denen Christi Forderung nach Gewaltlosigkeit deutlich wird, wie: "Stecke dein Schwert an seinen Ort!" (Mt 26,52) und liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, tut denen Gutes, die euch hassen und betet für die, die euch verachten und verfolgen (Mt 5, 44ff).

Es ist wichtig, folgende Punkte hervorzuheben:

1) Die Bibel scheint keine klare Aussage zu Gewalt und Gewaltlosigkeit zu machen. Die christliche Interpretation der Bibel im Rahmen der Debatte über Gewalt und Gewaltlosigkeit ist häufig voreingenommen und einseitig gewesen. Christen haben die Bibel jeweils so zitiert und ausgelegt, wie es den Bedürfnissen ihrer Zeit entsprach, und sind in ihrer Reflexion über die Rolle von Gewalt und Gewaltlosigkeit in ihrem Leben als Christen nicht tief genug gegangen. Die Ambivalenz in der Debatte dauert an, trotz der umfangreichen theologischen Literatur, die es heute zu diesem Thema gibt. Es ist daher wesentlich, dass wir uns auf die Bibel stützen, dass wir sie sorgfältig lesen und in einer ganzheitlichen Perspektive als Bezugspunkt nehmen.

2) Die Bibel ist die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen. Gottes Eingreifen in die Geschichte ist von zentraler Bedeutung für das Heil der Menschen. In der Bibel steht Gewalt im Gegensatz zu Gottes Liebe und Heilsplan. Gott ist mächtig, übt aber keine Gewalt aus. Er setzt seine Macht für das Kommen des Reiches ein, und er will seinem Volk Heil bringen. Gott spricht jedoch manchmal von Gewalt, um ihre destruktive Natur aufzudecken und das Gebot des Friedens zu betonen. Aus diesem Grunde stehen Gewalt und Frieden, Unterdrückung und Gerechtigkeit in der Bibel immer im Konflikt miteinander; sie sind Teil des geheimnisvollen Heilsplans Gottes.

3) Im Neuen Testament hat Gott der Heilsgeschichte eine neue Bedeutung gegeben. Christi Aussagen zum Frieden wie auch einige seiner Aussagen zur Gewalt müssen in der Perspektive des Reiches Gottes gesehen werden, das nahe ist, dessen Erfüllung jedoch jenseits der Geschichte liegt. Die Bibelstellen zur Gewalt sind Ausdruck der Macht und Stärke Gottes, so z.B. wenn Paulus dazu auffordert, die Waffenrüstung Gottes anzuziehen, damit wir uns gegen Feinde wehren können (Eph 6). Kreuz und Auferstehung zeigen an, dass der Tod seine Macht verloren hat. Christus stellt seine Macht und Stärke in den Dienst des Reiches Gottes, das ein Reich der Liebe und Gerechtigkeit, des Friedens und der Versöhnung ist. Das Hereinbrechen des Reiches Gottes führt zum Ausbruch von Gewalt.

4) Gottes Heilsplan in Christus ist es, die ganze Menschheit und Schöpfung zu befreien, zu heilen und zu verwandeln. Widerstand und Ablehnung waren permanente Wegbegleiter in Christi Leben und Amt. Aber Gewalt hat keinen Platz in Gottes oikonomia. Gewalt ist zerstörerisch; sie ist böse und todbringend. Das ist der Kern der göttlichen Offenbarung und eine der wichtigen Lehraussagen der Bibel.

5) Die Verwirklichung von Frieden in Gerechtigkeit ist das höchste Ziel des Amtes Christi, ja ist zentrales Merkmal des Reiches Gottes. Christi Geburt wurde als Kommen des Friedens in die Welt verkündet. Christus selbst bezeichnete sich als den wahren Frieden der Welt. Denen, die Frieden stiften, verhieß er das Reich Gottes. Er bezog klar Position gegen Ungerechtigkeit und identifizierte sich mit den Armen, Unterdrückten, den Opfern von Ungerechtigkeit und Gewalt, die er in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Menschenwürde unterstützte.

6) Böses mit Gutem zu überwinden (Gleichnis vom guten Samariter, Lk 10), ist ein wichtiger Schwerpunkt in Jesu Lehre. Mit anderen Worten, es ist unvereinbar mit dem Neuen Testament, Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Jesus hat keine Gewalt eingesetzt, um den Unterdrückten zu helfen. Bisweilen war er voller Unmut und Enttäuschung, dann wiederum erlitt er voller Demut die Gewalt der Mächtigen am Kreuz. "Sein Kreuz auf sich nehmen" bedeutet sowohl gewaltfreier Kampf als auch Selbstaufopferung. Deshalb steht "Überwindung von Gewalt" im Zentrum der biblischen Botschaft: "Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem" (Rm 12,21). Christi Verzicht auf Gewalt war nicht zufällig; es war eine klare Entscheidung.

VON AMSTERDAM NACH BERLIN: EINE FORTDAUERNDE ÖKUMENISCHE DEBATTE

Im ÖRK ist die Frage der Gewalt in verschiedenen Zusammenhängen und im Blick auf verschiedene ökumenische Anliegen aufgegriffen worden. In den frühen Jahren konzentrierte sich die Diskussion auf die Theorie des "gerechten Krieges", dann auf die Beteiligung von Christen an Kriegen. Auf der Weltkonferenz von "Kirche und Gesellschaft" im Jahre 1961 rückte die Frage des Einsatzes revolutionärer Gewalt gegen unterdrückerische Gesellschaftssysteme in den Mittelpunkt der ökumenischen Debatte. Die Kirchen waren hinsichtlich des Programms zur Bekämpfung des Rassismus (PCR) gespalten. Einige Kirchen, die die ökumenische Bewegung als Friedensbewegung ansahen, konnten die Unterstützung von Gruppen und Bewegungen, die gegen den Rassismus kämpften, nicht akzeptieren.

Die Vierte Vollversammlung (Uppsala 1968) beauftragte den Zentralausschuss mit der Untersuchung der Frage, wie der ÖRK Studien über gewaltfreie Methoden zur Herbeiführung von sozialem Wandel fördern könnte. Angesichts der durch den PCR-Sonderfonds ausgelösten Kontroverse beschloss der Zentralausschuss 1971, einen neuen Reflexionsprozess über die Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit in Gang zu setzen. Der Bericht der Konsultation "Gewalt, Gewaltlosigkeit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit" (Cardiff/Wales, 3.-7. September 1972) ist die umfassendste und sorgfältigste Analyse, die der ÖRK bisher zu diesem Thema durchgeführt hat. Er bekräftigt die Entscheidung für gewaltfreies Handeln und stellt eine Reihe von Kriterien auf, die Beachtung finden müssen, bevor in extremen Situationen Gewalt angewendet werden darf. Bedeutsam ist, dass dieser Bericht nicht kategorisch Befreiungsbewegungen verurteilt, die sich zur Gewaltanwendung gezwungen sehen.

Ende der siebziger Jahre erschwerte ein neuer Ausbruch terroristischer Anschläge weiter die Diskussion über Gewalt. Militarismus und Rüstungswettlauf gaben der Debatte eine neue Dimension. 1979 rief der Zentralausschuss die Kirchen erneut auf, der Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit durch die Förderung von Modellen friedlicher Konfliktlösung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Vier Jahre später wurde zur Vorbereitung der bevorstehenden Sechsten Vollversammlung eine kleine Konsultation einberufen (Ballycastle/Nordirland, 1983), die die fortdauernde Diskussion über Gewalt und Gewaltlosigkeit im neuen weltweiten Kontext prüfen und auswerten sollte. Fast ein Jahrzehnt später führte die Weltversammlung über Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung (JPIC-Seoul 1991) das Thema über die Dichotomie Gewalt-Gewaltlosigkeit hinaus und fügte die ökologische Dimension hinzu. Sie rief zu "einer Kultur der aktiven Gewaltlosigkeit" auf, in der "durch aktive Gewaltlosigkeit auf jede nur mögliche Weise" versucht wird, "Gerechtigkeit zu schaffen, Frieden herzustellen und Konflikte beizulegen"1 . 1994 beschloss der Zentralausschuss, das Programm zur Überwindung von Gewalt (POV) einzurichten, mit dem Ziel "die weltweit verbreitete Kultur der Gewalt (herauszufordern) und in Richtung auf eine Kultur des gerechten Friedens (zu) verändern"2. Dieses Programm wird mittlerweile als die natürliche Fortführung von JPIC angesehen. Es baut auf folgenden Einsichten auf, die aus der JPIC-Debatte hervorgegangen sind: Frieden und Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verbunden; Krieg kann nicht länger als legitimes Mittel zur Konfliktlösung angesehen werden; der Weg zur Herstellung von Gerechtigkeit und Frieden und zur Lösung von Konflikten führt über aktive Gewaltlosigkeit. Die Kampagne Friede für die Stadt, die 1996 vom Zentralausschuss im Rahmen des POV initiiert wurde, gab dem Engagement des ÖRK zur Überwindung von Gewalt konkretere Gestalt.

Dieser kurze Überblick über die ökumenische Debatte 3 gibt uns natürlich kein vollständiges Bild von der langen und schwierigen Diskussion eines so komplexen und heiklen Themas. Es ist jedoch wichtig, kurz auf einige der charakteristischen Aspekte dieser fortdauernden Debatte aufmerksam zu machen:

1) Die Kirchen, die in unterschiedlichen Kontexten und Situationen leben, haben unterschiedliche Positionen zur Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit zum Ausdruck gebracht. Einige sind der Meinung, dass die Lehren Jesu Christi zur Gewaltlosigkeit der richtige Weg seien; andere sehen dies als "nicht-praktizierbaren Idealismus" an. Wiederum andere sehen es als geboten an, Widerstand gegen Gewalt zu leisten. So ist die Diskussion von Ambivalenz, Unklarheit und Polarisierung beherrscht gewesen, und der Rat hat bis heute kein gemeinsames Verständnis in dieser brennenden Frage erreicht.

2) Die Bibel ist sowohl benutzt worden, um Gewalt zu rechtfertigen als auch um für Gewaltlosigkeit einzutreten. Die Kirchen fühlten sich häufig in einem Dilemma gefangen. Der Golfkrieg und die Kosovo-Krisen sind dafür relativ neue Beispiele.

3) Die Debatte des Rates über Gewalt hat sich auch mit der Frage des Rassismus und im Besonderen mit der Apartheid auseinandergesetzt. Andere Formen des Rassismus und die verschiedenen Arten von Gewalt haben wenig Aufmerksamkeit erhalten. Das JPIC-Programm hat die Diskussion sowohl in ihrer Ausrichtung als auch in ihrer Reichweite erweitert; die ganzheitliche Vision ist jedoch im Prozess der Umsetzung zu kurz gekommen.

4) Zwei mögliche Reaktionen auf Gewalt wurden in der ökumenischen Debatte erkennbar: revolutionärer Konflikt oder gewaltloser Widerstand. In der gesamten Diskussion des Rates hat es von Anfang an eine gemeinsame Tendenz gegeben, aktive Gewaltlosigkeit im Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zu fordern. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das PCR dem Konzept der "Gewalt als letzter Ausweg" eine Tür geöffnet hat.

ÜBERWINDUNG VON GEWALT: EINE ÖKUMENISCHE STRATEGIE

Die Frage der Gewalt wird in der kommenden Zeit einmal mehr - und dieses Mal mit noch mehr Nachdruck - die ökumenische Diskussion beherrschen. Die Kirchen und die ökumenische Bewegung stehen vor der großen Herausforderung, eine Antwort auf dieses schwerwiegendste und drängendste Problem unserer Zeit zu finden.

Wir tragen die bitteren Erfahrungen, die wir in unserer jeweiligen Geschichte gemacht haben, in uns. Unsere Theologie des Pazifismus und unsere Theologie des gerechten Krieges stehen in Konflikt miteinander. Darüber hinaus haben die Kirchen nicht nur keine klare und einstimmige Position in der Frage der christlichen Antwort auf Gewalt, in einigen Fällen sind sie sogar selbst Teil des Problems. 1999 stellte der Zentralausschuss fest: "Wir müssen aufhören, reine Zuschauer der Gewalt zu sein oder sie lediglich zu beklagen. Wir müssen uns aktiv um ihre Überwindung...bemühen."4 Es gibt drei Möglichkeiten, auf Gewalt zu reagieren: mit Passivität, mit gewalttätigem Widerstand und militanter Gewaltlosigkeit. Die kritische Frage lautet: Kampf oder Flucht. Die christliche Antwort muss "Kampf" lauten um Gewalt zu verwandeln. Dabei handelt es sich nicht um eine reine Frage der Strategie oder Vorgehensweise. Diese Vision und Verpflichtung erwächst aus dem eigentlichen Wesen des neuen Menschseins und der neuen Gemeinschaft in Christus. Passivität ist Unterordnung, Rückzug, Kapitulation. Der Christ darf Gewalt nicht mit "reaktivem" Widerstand, sondern muss ihn mit gewaltlosem, aktivem Widerstand, der eine neue Vision und Hoffnung erzeugt, bekämpfen. Für einige hingegen bietet revolutionäre Gewalt die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit und Befreiung. Ich glaube, dass aktive Gewaltlosigkeit, die der Zentralausschuss 1992 gefordert und beschlossen hat, die klare Option der ökumenischen Bewegung in ihrem Eintreten für die Überwindung von Gewalt bleiben sollte. Was ist aktive Gewaltlosigkeit? Folgende Punkte verdienen in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit:

1) Gewaltlosigkeit ist nicht ein Kompromiss, eine blinde und unkritische Haltung, fehlender Widerstand oder kampfloser Rückzug. Es ist der aus dem Glauben erwachsende Mut, nein zu Gewalt, nein zu Ungerechtigkeit zu sagen. Gewaltlosigkeit ist eine Lebensform, die Geduld und Vision voraussetzt; eine Form des Kampfes, der keinen Bund mit der Ungerechtigkeit eingeht und der Gewalt mit Gewaltlosigkeit herausfordert. Es ist die Entscheidung, mit psychologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Waffen zu kämpfen. Eine solche Entscheidung schließt ein: Protest (Demonstrationen, Nachtwachen, Streikposten, etc.) und Verweigerung der Zusammenarbeit (Boykotts, Streiks, Wirtschaftssanktionen, bürgerlicher Ungehorsam, etc.). Aktive Gewaltlosigkeit ist Ausdruck der Integrität, Identität und Unabhängigkeit eines Menschen. Die moderne Geschichte ist voll von Beispielen des gewaltlosen Kampfes, von Mahatma Gandhi bis Martin Luther King, vom Fall der Berliner Mauer (1990) bis Jugoslawien (2000). Gewalt bringt Gewalt hervor, während Gewaltlosigkeit die Machtlosigkeit der Mächtigen offenbart und die Wirksamkeit und Berechtigung von Gewalt in Frage stellt.

2) Überwindung von Gewalt durch gewaltlosen Kampf ruft die Kirchen auf, sich nicht mit Machtstrukturen zu identifizieren. Die Kirche muss eine machtlose Gemeinschaft werden, eine Gemeinschaft, deren Macht in der Machtlosigkeit Jesu Christi liegt. Christus hat die Mächte der Welt und der Finsternis durch seine Machtlosigkeit, durch das Kreuz, besiegt. Die Kirche hat sich oft auf die Seite weltlicher Mächte geschlagen und häufig sogar die Verbreitung der Guten Nachricht mit Gewalt durchgesetzt. Das Bündnis, das die Kirchen voller Blindheit mit Nationalstolz und Regierungspolitik eingehen, gefährdet in großem Maße ihre prophetische Aufgabe. Häufig sind die Kirchen aufgerufen, eine Entscheidung zwischen den Interessen ihres Landes und der Botschaft des Evangeliums zu treffen. So sind die gemischten Reaktionen der Kirchen auf die Konflikte im Irak, im Nahen Osten oder im Kosovo - um nur einige Beispiele aus der jüngsten Geschichte zu nennen - als klarer Beweis dafür zu werten, dass ein Beziehungsgeflecht zwischen Kirche, Nation und Staat konkrete Auswirkungen hat. Dieser kritische Bereich muss ernsthaft und umfassend diskutiert werden.

3) Aktive Gewaltlosigkeit bedeutet, auf der Seite der Opfer zu sein. Eine andere Möglichkeit, dem Evangelium treu zu sein, gibt es nicht. Christus hat sich mit den Opfern identifiziert, weil sie die wirklichen Sieger sind, die Erben des Reiches Gottes. Das aktive gewaltfreie Handeln der Kirchen sollte sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen, nicht nur für die Überwindung von Gewalt. Mit anderen Worten, "Gewaltlosigkeit" sollte nicht ein Ziel an sich sein, sondern nur ein Mittel zur Schaffung von Gerechtigkeit und zur Wiederherstellung von Frieden. Diese Verantwortung der Kirche darf unter keinen Umständen in Frage gestellt, auch wenn sie manchmal auf die Probe gestellt wird. Die Heilung menschlicher Wunden (soziale Diakonie) muss gefolgt sein von gewaltlosem Kampf für die Beseitigung der Ursachen von Gewalt (politische Diakonie).

4) Die Kirchen haben auf Gewaltsituationen nicht immer konsequent reagiert. Angst, Geduld und Vorsicht waren in kritischen Augenblicken häufig stärker als die Wahrnehmung ihres prophetischen Amtes. Welche Bedeutung hat das Kreuz für Leben und Zeugnis der Kirche in der Welt heute? Leichte Kompromisse sind keine christliche Lösung. Gewalt ist die Machtlosigkeit der Mächtigen, das Kreuz ist die machtvolle, gewaltfreie Antwort auf Gewalt. Wir vertrauen auf Gott; Gott ist unsere Zuflucht, unser Schutz, unsere Waffe gegen das Böse: "Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?" (Rm 8,31). Die Vollversammlung in Harare hat uns herausgefordert, "Geist, Logik und Praxis" der Gewalt zu überwinden. Daher muss die "Überwindung" von Gewalt eine klare ökumenische Strategie und Schwerpunkt der Dekade werden. Bisher haben wir Vorbeugung und Vermittlung als wirksame Wege zur Vermeidung von Gewalt dargelegt. Zusätzlich zu diesen Ansätzen möchte ich zwei Bereiche aufzeigen, über die intensiv nachgedacht werden sollte.

ÜBERWINDUNG VON GEWALT DURCH DEN AUFBAU VON GEMEINSCHAFT

Gemeinschaftsaufbau ist von zentraler Bedeutung für die Überwindung von Gewalt. Gemeinschaft ist nicht nur eine gesellschaftliche Notwendigkeit, sondern von ihrem Wesen her eine theologische Realität. Die Kirche ist ein Bundesvolk. Sie ist in die Welt gesandt worden, um die Menschen in Gemeinschaft miteinander und in ein neues Leben mit Christus zu führen.

1) Im christlichen Verständnis ist Gemeinschaft eine Bundesbeziehung zwischen Mensch und Gott. Der Mensch, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, steht in Beziehung zu Gott und kann nicht getrennt von Gott verstanden werden. Der Mensch ist ferner von Gott dazu berufen, mit anderen in gegenseitiger Liebe und Vertrauen verbunden zu sein. Gott hat die Menschen erschaffen, damit sie als Gemeinschaft leben; wir sind in einer Gemeinschaft miteinander verbunden; wir tragen Verantwortung füreinander und sind einander rechenschaftspflichtig. Daher stehen wir in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander und sind untrennbar miteinander verbunden, so dass alle leiden, wenn einer verletzt wird. Gewaltlosigkeit gehört zum eigentlichen Wesen dieser Gemeinschaft. Gewalt ist jene Macht der Finsternis, die die Werte des Evangeliums zerstört, die Beziehung gegenseitigen Vertrauens und Miteinanderteilens zerbricht und die Gemeinschaft spaltet, indem sie die Menschen von Gott und voneinander entfremdet. Gemeinschaftsaufbau zieht deshalb Überwindung von Gewalt nach sich.

2) Gemeinschaft bedeutet Identität; sie setzt auch Verschiedenheit voraus. Wer aggressiv seine Identität behauptet, weigert sich, Unterschiede zu akzeptieren. Eine solche Haltung kann Fundamentalismus, Ausschliesslichkeitsdenken, Ethnozentrismus und Gewalt nach sich ziehen. Beim Aufbau von Gemeinschaft sollten Identität und Verschiedenheit bewahrt werden, so dass sie sich in ihrer dynamischen Wechselbeziehung gegenseitig befruchten können. Einheit ist die Frucht kreativer Interaktion; Gewalt ist die Abwesenheit solcher Interaktion. Die Beendigung von Gewalt setzt voraus, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft aktiv mithelfen, Brücken zu bauen und Versöhnung herbeizuführen. Gemeinschaften oder Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft, die in Konflikt miteinander geraten, müssen sich aktiv um ihr Zusammenleben als Gemeinschaft bemühen. Es geht um mehr als bloße Koexistenz; es geht um Gemeinschaft, in der Unterschiede respektiert werden und in der gegenseitiges Vertrauen aufgebaut wird, um miteinander leben zu können. Wir müssen einander so akzeptieren, wie wir sind.

3) Wenn wir Gewalt überwinden wollen, müssen alle Mitglieder der Gemeinschaft voll und aktiv an den Entscheidungsstrukturen und -prozessen mitwirken. Wo immer es eine herrschende Minderheit und eine unterdrückte Mehrheit gibt, gibt es keine Gemeinschaft. Um in Frieden miteinander zu leben, müssen wir in Gerechtigkeit miteinander leben. Das Leben einer Gesellschaft muss sich auf demokratische Werte stützen, die die Rechte der Menschen auf Partizipation, Würde und Gleichberechtigung fördern.

4) Gemeinschaft bedeutet nicht einfach, gemeinsam an einem Ort zu leben; es bedeutet auch, gemeinsame Werte und Traditionen zu haben und voneinander zu lernen. Gemeinschaft gibt eine gemeinsame Identität, schafft Sicherheit und Gerechtigkeit für alle. Deshalb bedeutet Gemeinschaft Negation von Gewalt. Eine Gemeinschaft, die von gegenseitiger Verantwortung und Vertrauen, von einer gemeinsamen Zielsetzung und Vision getragen wird, gewährleistet, dass der Gewalt ein Ende gesetzt wird. Gemeinschaftsaufbau stellt einen Heilungsprozess dar: er bewirkt Umkehr zu Gemeinschaft, Veränderung von Strukturen, Umkehr des Herzens und führt zur Überwindung von Gewalt.

5) Gemeinschaftsaufbau ist Bewusstseinsbildung. Aufklärungsarbeit in Kirche und Zivilgesellschaft ist von zentraler Bedeutung für die Überwindung von Gewalt. Gemeinsam mit den Akteuren der Zivilgesellschaft müssen die Kirchen ihre Regierungen permanent und nachdrücklich auffordern, Aufklärungsarbeit ganz oben auf die Prioritätenliste zu setzen.

a) Häufig werden Menschen durch Gewalt konditioniert, so dass sie sich des Bösen und seiner zerstörerischen Auswirkungen nicht mehr bewusst sind. Familie und Schule können eine Schlüsselrolle in der Bewusstseinsbildung spielen. Die Familie ist eine heilige Institution, sie ist eine "kleine Kirche". Erziehungsprozesse und christliche Unterweisung beginnen in der Familie. Für einige unserer Kirchen ist die Schule in ihrer Gemeinschaft in gewisser Weise eine "Fortführung" der Kirche. Religionsunterricht muss einen zentralen Stellenwert in den verschiedenen Lebensbereichen einer Schule erhalten. Diesen beiden wichtigen Institutionen des Gemeinschaftslebens, die in vielen Gesellschaften aus vielerlei Gründen ihre Schlüsselrolle verloren haben, aber grundlegende Instrumente im Prozess der Bewusstseinsbildung sind, muss prioritär Aufmerksamkeit geschenkt werden.

b) Gewalt ist häufig das Ergebnis von Erinnerungen, die in der Geschichte verwurzelt sind. Wir können die Geschichte nicht ändern, wir können das kollektive Gedächtnis einer Nation nicht außer Acht lassen. Wie aber können wir Lehren aus der Vergangenheit ziehen? Was können wir tun, damit unsere bitteren Erfahrungen und traurigen Erinnerungen zu Quellen der Bewusstseinsbildung und Erneuerung für die kommenden Generationen werden? Wir können unsere von Gewalt geprägte Geschichte durch einen mutigen Akt des Bekennens und Vergebens verwandeln. Heilung vergangenen Unrechts wird uns in großem Maße helfen, die Zukunft zu gestalten.

c) Individueller Egoismus und kollektiver Ethnozentrismus führen zu Gewalt, weil sie Angst vor Bedrohung und Unsicherheitsgefühle auslösen. Wie kann Aufklärungsarbeit diese Bedrohung in gegenseitiges Akzeptieren, die Unsicherheit in gegenseitiges Vertrauen, den Hass in gegenseitige Liebe verwandeln? Mit anderen Worten, wie können Menschen, die in Gewalt gefangen sind, durch Aufklärungsarbeit von Hass und Angst befreit werden? Aufklärung und Erziehung müssen darauf abzielen, den Machtlosen die Macht zu geben, sich all jenen Werten und Strukturen zu widersetzen, die Ungerechtigkeit, Unsicherheit und Gewalt hervorrufen. Dabei muss es gezielt um die gerechte Ausübung von Macht gehen. Macht ist ambivalent, sie kann sowohl Quelle des Bösen als auch des Fortschritts sein. Wie kann Macht nutzbringend für Gerechtigkeit, Menschenrechte und Menschenwürde eingesetzt werden? Dies ist eine weitere kritische Frage, mit der die ökumenische Bewegung sich auch in Zukunft intensiv auseinandersetzen sollte.

d) Viele Erziehungssysteme und -methoden, einschließlich der kirchlichen, erzeugen Gewalt. Sie müssen vollständig und radikal umgestaltet und verwandelt werden. Dies ist ein langwieriger und schwieriger Prozess, dem Länder, Kirchen und NROs ernsthafte Aufmerksamkeit schenken müssen. Die Massenmedien, die von einer Kultur der Gewalt beherrscht sind, können als wichtiges Instrument genutzt werden, um Aufklärungsarbeit zur Überwindung von Gewalt zu leisten.

ÜBERWINDUNG VON GEWALT DURCH FRIEDENSARBEIT

Von grundlegender Bedeutung für die Verhütung von Gewalt ist die Aufgabe, eine Friedenskultur aufzubauen. Staaten und Gesellschaften investieren mehr Geld in Projekte und Initiativen, die Gewalt erzeugen, als in Prozesse, die Gerechtigkeit und Frieden fördern. Friedenschaffende Maßnahmen sind von zentraler Bedeutung für die Bekämpfung von Gewalt. Der internationalen Gemeinschaft (Regierungen, zwischenstaatliche Organisationen, internationale Finanzinstitutionen, transnationale Unternehmen, Massenmedien und Zivilgesellschaft) kommt hier besondere Verantwortung zu. Die Vision von einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens ist Kern des Evangeliums. Gerechtigkeit und Frieden bedeuten, dass das Reich Gottes in die Geschichte einbricht. Sie sind Geschenk Gottes, aber sie sind auch Aufgabe und Berufung der Kirche, die das eschatologische Zeichen der Herrschaft Gottes in der Welt ist. Die Kirche ist nicht nur eine koinonia des Friedens, sondern auch eine koinonia, die der Schaffung eines gerechten Friedens verpflichtet ist. Welche Berufung hat nun die Kirche?

1) Seit seiner Ersten Vollversammlung hat der ÖRK betont, dass es notwendig ist, "Frieden in Gerechtigkeit" anzustreben. Die Vollversammlungen in Nairobi und Vancouver riefen die Staaten auf, "ohne den Schutz von Waffen zu leben"5. Die JPIC-Versammlung sprach von der "Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen" und "der Förderung gewaltfreier Formen der Verteidigung"6. Der Zentralausschuss in Johannesburg (1994) bekräftigte die dringende Notwendigkeit der Überwindung von Gewalt durch die Entwicklung "neue(r) theologische(r) Ansätze..., die mit der Lehre Christi übereinstimmen, die nicht mit Krieg beginnt und dann zum Frieden kommt, sondern mit der Notwendigkeit von Gerechtigkeit"7. Wir haben die Diakonie entwickelt, um die Leiden von Gewaltopfern zu lindern. Wir haben Gewaltanwendung verurteilt. Wir haben theologische Analysen zur Frage der Gewalt ausgearbeitet. Wir müssen jetzt, wie die Vollversammlung in Harare es formuliert hat, eine Kultur des Friedens durch die "Entwicklung geeigneter Ansätze für Konfliktbewältigung und die Schaffung eines gerechten Friedens im Kontext der Globalisierung"8 entwickeln. Wir müssen auf Gewalt reagieren, indem wir aktive Friedensarbeit leisten. Welches sind die Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen wir eine solch komplexe Aufgabe erfüllen können?

2) Wir können Gewalt nicht nur durch Aufklärungsarbeit und Gemeinschaftsaufbau beseitigen; wir müssen uns auch für Gerechtigkeit einsetzen. Sozio-ökonomische Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung rufen Gewalt hervor. Die gerechte Verteilung von Macht und Ressourcen ist eine Vorbedingung für die Beendigung von Gewalt. Wir müssen sagen "keine Gewalt mehr; stoppt die Gewalt", aber wir müssen genauso laut und vernehmlich fordern "Gerechtigkeit für alle". Frieden ist nicht die Abwesenheit von Gewalt, sondern die Anwesenheit von Gerechtigkeit. Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben. Frieden zu schaffen, ist ein langer und komplexer Prozess, der mehr erfordert als nur einen Waffenstillstand oder ein politisches Übereinkommen. Was können die Kirchen tun, damit eine Gesellschaft, wie es Seoul formuliert hat, von der Doktrin des gerechten Krieges zu einer Doktrin des gerechten Friedens übergeht. Dies ist eine große Aufgabe, der die Kirchen sich stellen müssen.

3) Frieden zu schaffen, ist integraler Bestandteil des Amtes der Kirche. "Suche Frieden und jage ihm nach" (Ps 34,14). Die wesentlichen Merkmale christlicher Friedensarbeit sind: Feindesliebe, Versöhnung, Heilung, vertrauensbildende Maßnahmen, Abreißen von Trennmauern und Widerstand gegen Gewalt, mit dem Ziel, den Feind zur Umkehr zu bewegen. Die Kirchen und die ökumenische Bewegung müssen eine Theologie des Friedens entwickeln, die der Kirche eine besondere Rolle in der Konfliktumwandlung und der Schaffung eines gerechten Friedens zuweist. Eine solche Theologie muss auf Buße und Vergebung, Wahrheit und Gerechtigkeit aufbauen. Ich glaube, dass die Kirchen auch einen signifikanten Beitrag zum Aufbau einer Friedenskultur leisten können, indem sie wirksame Strategien der Vorbeugung und Vermittlung entwickeln. Teilhabe am Leid anderer, gegenseitige Fürbitte und Solidaritätsbekundungen werden den gemeinsamen Kampf der Kirchen für Frieden sicher weiter stärken.

4) Der Frieden, für den wir uns einsetzen, ist nicht Menschenwerk, sondern Gabe und Berufung Gottes. "Meinen Frieden gebe ich euch" (Joh 14,27). Der Frieden Christi ist nicht der Frieden "wie die Welt gibt" (Joh 14,27). Er gründet vielmehr in der Erlösung; er ist das Geschenk der Erlösung, die Jesus Christus gebracht hat. Daher gehört uns der Frieden, den Gott uns in Christus geschenkt hat, nicht. Wir sind von Gott gesandt, Frieden zu schaffen, und wir müssen Gott Rechenschaft darüber ablegen. Die Geburt Jesu Christi wurde von den Engeln als Fleischwerdung des Friedens verkündet. Frieden zu schaffen, ist nicht eine der Aufgaben der Kirche; Friedensarbeit ist vielmehr das esse der Kirche, gehört zu ihrem Sein und Werden. Volk Gottes zu sein, bedeutet, die Botschaft des Friedens und der Versöhnung zu verkörpern: diejenigen, die Frieden stiften, "werden Gottes Kinder heißen" (Mt 5,9).

5) Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen. In christlicher Sicht ist dies nicht eine methodische oder strategische Frage, sondern eine ontologische Realität. Wir müssen Modelle der Friedensarbeit entwickeln, die diese Zusammengehörigkeit widerspiegeln. Friedensarbeit scheitert, wenn sie nicht bei der Ursache von Gewalt ansetzt: Ungerechtigkeit. Wenn Menschheit und Schöpfung überleben sollen, muss der Gewalt ein Ende gesetzt werden. Und Gewalt kann nur dann beendet werden, wenn Gerechtigkeit und Versöhnung unter den Menschen und zwischen der Menschheit und der Schöpfung hergestellt werden. Frieden kann nicht aufgezwungen werden; er muss im Leben der Gemeinschaft entstehen. Überwindung von Gewalt ist nicht eine Strategie. Die christliche Strategie besteht darin, Frieden zu schaffen. Die Friedensarbeit der Kirchen muss eher präventiven als therapeutischen Charakter annehmen. Das bedeutet, dass die Kirche sich für eine Kultur einsetzen sollte, die Gerechtigkeit, Gleichheit, Partizipation und Rechenschaftspflicht wachsen lässt. Nur eine solche Kultur kann eine Kultur des Friedens werden. Der Aufbau einer Kultur des Friedens beginnt auf Ortsebene, zu Hause.

ÜBERWINDUNG VON GEWALT: EIN VERWANDLUNGSPROZESS

Wir können Gewalt nicht durch Widerstand allein überwinden. Widerstand ist eine kurzfristig angelegte Reaktion, die primär auf Selbstverteidigung, auf Überleben ausgerichtet ist. Wenn wir Gewalt wahrhaft überwinden wollen, müssen wir in einen Prozess der Verwandlung eintreten. Gottes Handeln in Jesus Christus für die Befreiung der Menschheit und die Neuschöpfung des Lebens ist Verwandlung. Die Kirche als Zeichen und Vorwegnahme des Reiches Gottes muss Mittlerin der göttlichen Ökonomie der Verwandlung werden, indem sie Gottes versöhnende, heilende und befreiende Gnade in der Welt Fleisch werden lässt.

1) Gott ist in Jesus Christus Fleisch geworden, um die Menschen von Ungerechtigkeit, Sünde, Frevel und Tod zu befreien und sie zum wahren Leben in Gott zu führen. Die Befreiung der Menschheit und der Schöpfung ist Erlösung und Erlösung ist Neuschöpfung. Um Befreiung herbeizuführen, sollte die Kirche die Notwendigkeit von Veränderungen erkennen und bewusst machen; sie sollte sich verstärkt dafür einsetzen und dazu befähigen, die gegebene Ordnung zu verwandeln und den Kampf der Völker für Gerechtigkeit und Würde sowie für gerechte und partizipatorische Regierungsformen und sozio-ökonomische Strukturen voranzutreiben. Befreiung zerstört Strukturen nicht, sondern erneuert und verändert sie; sie vernichtet den Feind nicht, sondern verwandelt Feindbilder; sie beseitigt nicht Verschiedenheit, sondern schafft eine Gesellschaft, in der alle in Harmonie leben. Daher ist Befreiung weder Widerstand noch Reaktion, sondern eine gewaltlose Revolution. Christ zu sein, bedeutet, sich bedingungslos dem Kampf um Befreiung zu verpflichten und daran teilzunehmen. "Siehe, ich mache alles neu!" (Offb 21,5) ist ein Aufruf, aktiv am fortlaufenden Prozess der Befreiung und des Einsatzes für mehr Menschlichkeit, der von Christus eingeleitet wurde, mitzuwirken. Wir können Gewalt nicht zerstören. Aber wenn wir dem Evangelium folgen, können wir sie in ein Zeichen der Umkehr und Befreiung verwandeln.

2) Gewalt bedroht nicht nur die Qualität und Ganzheit des Lebens, sondern das Leben selbst. Sie verweigert Leben. Widerstand gegen Gewalt zu leisten, bedeutet, für das Leben zu kämpfen. Folgende Punkte verdienen in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit: a) Das Leben ist ein Geschenk Gottes; es ist nicht menschlicher Besitz. Verletzung des Lebens ist eine Sünde gegen Gott. Eintreten für das Leben ist Ablehnung von Gewalt. Gewalt zerstört Leben, während Gewaltlosigkeit Leben erhält; sie erhält die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Lebens. Dies ist de facto eine grundlegende biblische Aussage. b) Menschliches Leben ist mehr als bloße Existenz, es hat ein Ziel. Es muss für das Reich Gottes gelebt werden. Die Werte des Reiches Gottes müssen das menschliche Leben stützen und lenken. Ein solches Leben sollte permanenter gewaltloser Widerstand gegen das Böse, gegen "Mächtige und Gewaltige"(Eph 6) dieser Welt werden. Widerstand im Glauben ist eine wesentliche Dimension christlichen Lebens. c) Menschliches Leben ist nicht eine statische Realität; es ist ein Prozess, ein Prozess der Erfüllung. Die Menschen sind dazu berufen, ihr Leben in größere Fülle und Ganzheit hineinwachsen zu lassen. Dieser Prozess des vollen und wahrhaftigen Menschwerdens ist ein geistlicher Prozess, der das Gute gegen das Böse, Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit, Gewaltlosigkeit gegen Gewalt verteidigt. d) Das Leben ist eine Realität wechselseitiger Beziehungen. Menschliches Leben ist integraler Bestandteil der Schöpfung. Daher müssen wir Leben ganzheitlich verstehen. Wenn wir anderen Gewalt antun, tun wir dem eigenen Selbst und der Schöpfung Gewalt an, und wenn wir dem eigenen Selbst und der Schöpfung Gewalt antun, tun wir anderen Gewalt an. Überwindung von Gewalt bedeutet Bewahrung der Heiligkeit, Ganzheit und Fülle des Lebens und der Integrität der Schöpfung.

3) Die Macht der Gewalt muss durch die Kraft des Lebens bezwungen werden. Die Kirchen sind aufgerufen, all jene Strukturen, Systeme und Einstellungen zu verändern, die dem Gehorsam der Kirchen gegenüber Gottes Vision vom Leben, wie sie im Evangelium Jesu Christi offenbart wurde, zuwiderlaufen. Die Kirche lebt nicht für sich selbst; ihr Daseinszweck besteht darin, an der Befreiung, Verwandlung und Leben spendenden Kraft Gottes in Christus teilzuhaben. Verwandlung setzt den Sieg des Lebens über den Tod, der Machtlosigkeit über die Macht voraus. Wie können wir einer Gesellschaft die Heiligkeit des Lebens bewusst machen? Wie können wir bewusstseinsbildende Prozesse in Gang setzen, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen, dass das menschliche Leben einen Sinn hat und dass die Ganzheit des Lebens bewahrt werden muss? Wie können wir ein Lebensumfeld schaffen, in dem Menschsein möglich ist, und damit dem Wert des einzelnen Menschen in dieser Welt der Globalisierung Ausdruck verleihen? Wenn wir uns diesen Fragen stellen, so können wir unseren gewaltlosen Widerstand in bedeutsamer Weise voranbringen. Die ökumenische Bewegung sollte die Kirchen herausfordern, eine auf das Leben zentrierte und Gewalt verändernde Theologie zu entwickeln.

GEWALT ALS "LETZTER AUSWEG"

Ich komme jetzt zum heikelsten Teil meines Berichts. Hier lautet die brennende Frage: Lässt sich Gewalt für eine gerechte Sache rechtfertigen?

1) Der Einsatz von Gewalt für die Sache der Gerechtigkeit hat von Anfang an im Mittelpunkt der ökumenischen Diskussion über Gewalt und Gewaltlosigkeit gestanden. Es ist den Kirchen nicht gelungen, eine gemeinsame Position in dieser Frage zu erreichen. Einige haben das Kriterium des "gerechten Krieges" gerechtfertigt. Danach sollte ein Krieg für eine gerechte Sache geführt werden dürfen; ein solcher Krieg sollte einen gerechten Frieden zum Ziel haben; er sollte nur als letztes Mittel von einer rechtmäßigen Macht eingesetzt werden und begründete Aussichten auf Erfolg haben. Die historischen Friedenskirchen vertreten hingegen die Position, dass jedweder Einsatz von Gewalt den Geboten Christi zuwiderläuft. Die Erste Vollversammlung des ÖRK äußerte ernste Zweifel an der Anwendbarkeit der Kriterien des "gerechten Krieges". 1948 kam es zu keiner Einigung in dieser Frage. Und jedes Mal, wenn das Thema neu zur Diskussion stand oder ein Konflikt ausbrach, befand der Rat sich in einer schwierigen Situation, weil die Kirchen unterschiedliche Positionen vertraten. Während des Golfkriegs und der jüngsten Bombenangriffe der NATO gegen Jugoslawien stand die Frage einmal mehr im Mittelpunkt der ökumenischen Diskussion. Die Legitimität der Anwendung von Gewalt bleibt selbst für den Fall, dass eine Staatsmacht sie im Kampf gegen Ungerechtigkeit einsetzt, eine offene Frage.

2) Während dieser Tagung wird der Zentralausschuss über das Dokument "Die Anwendung von Waffengewalt zur Unterstützung humanitärer Ziele - ein ökumenischer ethischer Ansatz" beschließen. 1995 nahm der Zentralausschuss ein "Memorandum und Empfehlungen zur Verhängung und Anwendung von Sanktionen" an. 1999 billigte er ein "Memorandum und Empfehlungen zur internationalen Sicherheit und zur Reaktion auf bewaffnete Konflikte", die zu neuen Strategien für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in der Zeit nach dem Kalten Krieg aufriefen und auf einige der neu entstandenen moralischen und ethischen Dilemmata im Zusammenhang mit der Frage "humanitärer Interventionen" eingingen. Das neue Studiendokument stellt eine weitere Etappe in der ökumenischen Reflexion über die Anwendung von Waffengewalt in den internationalen Beziehungen dar. Bei der Vorbereitung dieses Dokuments sah sich der Rat großen Schwierigkeiten gegenüber. Das Dilemma lautet immer wieder: Wie kann die internationale Gemeinschaft einerseits ihre Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung, deren Rechte grob verletzt werden, wahrnehmen und andererseits den Einsatz von Gewalt vermeiden? Wie ist es möglich, bei humanitären Interventionen zwischen den langfristigen wirtschaftlichen und strategischen Interessen einer Großmacht und dem kurzfristigen, begrenzten Ziel der Intervention zu unterscheiden? Effektivität ist ein weiteres Anliegen. Werden die Menschenrechte nach der Intervention besser geschützt bzw. wird die Legitimität wiederhergestellt? Ferner stellt sich die Frage, auf wessen Initiative die Intervention zurückgeht und wer das Recht hat einzugreifen. Welche Auswirkungen hat die Intervention auf die nationale Souveränität, die Vollmacht der UNO und das Völkerrecht? Die Diskussion dieser Fragen veranlasste die Verfasser des Dokuments zu folgenden Feststellungen: 1. Die Anwendung todbringender militärischer Gewalt ist kein humanitärer Akt, da humanitäres Eingreifen Werte wie Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Universalität voraussetzt und darauf abzielt, Menschen in Gefahr zu helfen. 2. Militärische Intervention sollte nicht als einzelner Akt angesehen werden, sondern als "Teil eines Kontinuums von Maßnahmen, die von humanitärer Hilfe über diplomatischen Druck und Wirtschaftssanktionen bis zur Anwendung von Waffengewalt in irgendeiner Form als letztem Mittel reichen". 3. Der erreichte Konsens läuft darauf hinaus, dass "Waffengewalt nur unter äusserst schwerwiegenden und aussergewöhnlichen Umständen angewendet werden sollte, wenn dies als letztes Mittel erforderlich ist, um Menschen aus großer Gefahr zu retten und sie zu schützen"9. All dies lässt den Eindruck entstehen, dass die ökumenische Bewegung den Einsatz militärischer Gewalt unter bestimmten Umständen befürwortet, um Menschenleben zu retten und Gerechtigkeit herzustellen. Meines Erachtens bedeutet dies, dass Verwirrung, Ambivalenz und das eigentliche Dilemma fortbestehen werden. Wie soll man die genaue Trennlinie zwischen dem legitimen und dem unmoralischen, ungerechten Einsatz von Gewalt ziehen? Wie können Natur und Umfang der so genannten "humanitären Intervention" festgelegt werden?

3) Gewalt und Gewaltlosigkeit können aufeinander treffen. Sie sind häufig miteinander verflochten. In Cardiff gelang es nicht, "a priori zu empfehlen, ob in einer besonderen Situation Gewalt oder aktive Gewaltlosigkeit angewendet werden sollte"10. Wir müssen über die Dichotomie Gewalt-Gewaltlosigkeit hinausgehen. Wir benötigen einen breiter gesteckten Rahmen. Die christliche Option ist ganz klar aktive Gewaltlosigkeit. Unsere Stärke wächst uns aus dem Kreuz und nicht aus dem Schwert zu, aus der Liebe und nicht aus dem Hass, aus Gewaltlosigkeit und nicht aus Gewalt. Aber das Kreuz ist nicht das Ende; wir haben die Auferstehung, den Sieg des Lebens, der durch das Kreuz errungen wurde. Gewalt ist böse; doch ist Gewalt für einige, die unter Bedingungen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung leben und die alle Möglichkeiten gewaltfreien Handelns ausgeschöpft haben, eine unausweichliche Alternative, der letzte Ausweg. Sollten wir daher dem Dilemma Gewalt-Gewaltlosigkeit nicht aus dem Weg gehen, indem wir eine Brücke schlagen, anstatt zu polarisieren. Ist der Aufstand in Palästina nach so vielen Jahren gewaltlosen Engagements und geduldiger Verhandlungen nicht ein weiteres Beispiel für die Option "Gewalt als letzter Ausweg"? Natürlich können wir Gewalt in einer beliebigen Situation nicht einfach legitimieren. Noch können wir Gewalt verurteilen, wenn sie als "letzter Ausweg" für die Sache der Gerechtigkeit und Menschenwürde eingesetzt wird.

4) Deshalb ist der "begrenzte und kontrollierte" Einsatz von Gewalt, der auf eine Änderung der sozialen Bedingungen und die Schaffung von Gerechtigkeit für alle abzielt11, akzeptabel und sogar notwendig. Er ist integraler Bestandteil des Befreiungsprozesses. Einige sprechen sogar von "erlösender Gewalt". Diese Art von Gewalt darf nicht allgemein angewendet werden; sie muss in einem gegebenen Kontext zur Verteidigung der Gerechtigkeit und als letztes Mittel eingesetzt werden. Es muss darauf hingewiesen werden, dass, wenn einige den "begrenzten und kontrollierten" Einsatz von Gewalt für eine "gute Sache" als Quelle der Befreiung ansehen, er für andere Quelle der Knechtschaft ist. Letztere bringen vor, dass Leben und Lehre Christi den Einsatz jedweder Form physischer Gewalt ausschließen, und sie lehnen von vorneherein jeglichen Rückgriff auf Gewalt unter welchen Bedingungen auch immer ab. Das Dilemma bleibt bestehen. Können wir Gewaltlosigkeit verabsolutieren? Jesus hat nicht gesagt, wir sollten uns dem Bösen nicht widersetzen. Er hat gesagt, dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten sollen. Die Frage lautet also, unter welchen Umständen und wie, nicht ob das Böse bekämpft werden sollte. Wir können uns nicht für Passivität entscheiden; wir müssen Widerstand gegen Ungerechtigkeit leisten. Dieser Widerstand beginnt mit der Verweigerung der Zusammenarbeit mit Ungerechtigkeit und mit dem nachdrücklichem Eintreten für Gerechtigkeit. 1971 betonte der Zentralausschuss: Wir können die Opfer des Rassismus, die sich zur Gewaltanwendung als letztem Ausweg gezwungen sehen, um erlittenes Unrecht wiedergutzumachen und den Weg in eine neue, gerechtere Gesellschaftsordnung zu öffnen"12, nicht richten. 1973 sprach der Zentralausschuss von drei möglichen Positionen: "aktive Gewaltlosigkeit als einzige Möglichkeit, Jesus Christus gehorsam zu sein", gewaltloser Widerstand als "christliche Pflicht in extremen Situationen" und "Situationen der Gewalt, an der Christen sich beteiligen müssen"13. Können wir eine ethische Richtlinie zur Überwindung von Gewalt festlegen, die einerseits dem Evangelium treu und andererseits realistisch und praktikabel ist? Gibt es "Mittel", die eingesetzt werden können, bevor wir zum "letzten Mittel" greifen? Das Parlament der Weltreligionen stellte fest: "Wo immer die Herrschenden die Beherrschten zu unterdrücken drohen, wo immer Institutionen Menschen bedrohen und wo immer Macht das Recht unterdrückt, haben wir die Pflicht, Widerstand zu leisten, wo immer möglich auf gewaltlose Weise"14.

BERLIN RUFT ERINNERUNGEN WACH

Wir halten zum ersten Mal eine Tagung im wiedervereinigten Berlin ab. Wir tagen in dieser historischen Stadt, die eine Schlüsselrolle in der Gestaltung und Neugestaltung der Geschichte Europas gespielt hat und auch heute noch spielt. Ja, Berlin ruft Erinnerungen wach....

In Europa ruft es gespaltene Erinnerungen und Erinnerungen an gespaltene Geschichte wach. Auch im Rest der Welt ruft Berlin Erinnerungen wach. Die Berliner Mauer war de facto das sichtbarste Kennzeichen ideologischer und politischer Rivalitäten, die das Leben von Millionen von Menschen selbst in den abgelegensten Winkeln der Erde beeinflusst hat.

Andere wiederum verbinden mit Berlin Erinnerungen, die mehr als ein Jahrhundert zurückliegen. Der Berliner Kongress von 1884-1885 bildete den Höhepunkt des europäischen Pokers um Afrika. Auf dieser Konferenz wurde Afrika in einer Weise aufgeteilt, die das Gesicht des Kontinents und das Leben seiner Menschen radikal veränderte. Briten, Franzosen, Deutsche, Portugiesen, Italiener, Spanier und Belgier teilten Afrika wie einen Kuchen unter sich auf, jeder schnappte sich eins oder mehrere Stücke, wobei die Rechte und das Wohl der dort lebenden Völker überhaupt keine Rolle spielten. Die Aufteilung Afrikas beschleunigte auch den Prozess der Kolonialisierung und all die Gewalt, die er nach sich zog.

Berlin ruft auch Erinnerungen daran wach, wie die Macht des Volkes, gestützt auf aktive Gewaltlosigkeit, "Trennmauern" niederreißen kann.

Dies ist unser ökumenischer Weg zu Friede in Gerechtigkeit, den wir von Amsterdam nach Berlin gegangen sind, - ein langer und schwieriger Weg, der von Glaube, Hoffnung und Vision getragen wird.

DOV: EIN AKTIONSORIENTIERTER PROZESS, IN DESSEN MITTELPUNKT DER MENSCH STEHT

An dieser Stelle, da wir uns auf die Eröffnung der Dekade zur Überwindung von Gewalt (DOV) vorbereiten, ist es wichtig, noch einmal folgende Punkte hervorzuheben:

1) Die Dekade sollte an erster Stelle einen Prozess des kreativen theologischen Nachdenkens über Gewalt einleiten. Die Verpflichtung der Kirchen auf Gewaltlosigkeit muss durch eine ernsthafte theologische Diskussion untermauert werden. Gewalt stellt die Theologie vor eine große Herausforderung und berührt die tieferen Schichten dessen, was es bedeutet, in einer von Gewalt zerrissenen Welt Christ zu sein. Die Kirchen sollten über allzu einfache und oberflächliche Argumente hinausgehen und zu tiefgründigen theologischen Fragen vordringen. Wir müssen Gewalt in konkreten und kulturübergreifenden Kontexten analysieren und mehr über ihre ambivalenten und paradoxen Ursachen und Formen herausfinden. Wir müssen unsere Einstellung zu Gewalt neu formulieren und neu definieren. Wir müssen unsere Reflexion über Identität, Einheit und Verschiedenheit als Quellen der Gewaltlosigkeit vertiefen; und wir müssen weiter über Nationalismus und Ethnizität als potenzielle Auslöser für Gewalt nachdenken. Mit anderen Worten, wir müssen auf ein holistisches Verständnis von Gewalt hinarbeiten, indem wir ihre Ursachen erforschen. Jedweder theologische Ansatz bleibt jedoch irrelevant, wenn er sich nicht auf konkrete Situationen bezieht. In der Theologie geht es nicht nur um das Kirchesein, sondern auch um das Kirchewerden - die beide zusammengehören. Diese Zusammengeh