Nr. 1 -Januar 2000 |
Liebe Freunde, liebe Freundinnen!
Das Kalenderdatum, mit dem wir in das 21. Jahrhundert eintraten, bot sich als Gelegenheit zum
Nachdenken, Hoffen und Träumen über vieles, das uns am Herzen liegt, geradezu an. Ich habe mir
gestattet, ein wenig davon zu träumen, wie unser evangelistisches Zeugnis im neuen Jahrtausend
aussehen könnte, und deshalb möchte ich Ihnen in diesem ersten Ökumenischen Brief über
Evangelisation im Jahr 2000 einige dieser Träume vorstellen.
In meinen Träumen von Evangelisation im neuen Jahrtausend sah ich uns im Internet surfen, Archive
und Geschichtsbücher konsultieren, um herauszufinden, was mit "Abteilung für missionarische
Verkündigung" oder "Referat für Evangelisation" in den Kirchen gemeint war. Niemand dachte mehr
daran, dass Evangelisation einmal als eine "Tätigkeit" angesehen worden war, die eine besondere
Sprache und besondere Fähigkeiten erforderte, und niemand von uns brauchte mehr
Evangelisationsexperten, um die Arbeit für uns zu tun.
Wir hatten verstanden, dass Gottes Heilswirken unter den Menschen in den Freuden und Tragödien
des täglichen Lebens zum Ausdruck kommt, und uns allen schien deutlich bewusst zu sein, welches
Potenzial in uns und um uns herum vorhanden ist, um die hoffnungsvolle Geschichte von der Liebe
Gottes in Christus auszubreiten.
Auf der ganzen Welt hatten Kirchen und missionarische Einrichtungen gelobt, Menschen nicht als
Mittel zu irgendwelchen Zwecken einzusetzen, auch nicht zu einem guten evangelistischen Zweck!
Was die Kirchen einst als "Proselytismus" verstanden, gab es nicht mehr (das Konzept als solches
war von gigantischen Unternehmen übernommen worden, die es ausschliesslich in Bezug auf die
Anwerbung von Spitzenkräften verwandten).
Auch wenn wir dem Wachstum in der christlichen Nachfolge größere Bedeutung beimaßen als einem
rein zahlenmässigen Anstieg der Mitgliedschaft, benutzten doch die, die die Zeugniskonzepte
anderer kritisierten, ihre Kritik nicht als Vorwand dazu, auf die Verbreitung des Wortes Gottes
zu verzichten.
Ich erkannte, dass wir als das Volk Gottes zuallererst uns selbst erlaubten, eine neue Schöpfung
zu werden. Die heilige Nahrung des Wortes, der Sakramente und der Gemeinschaft war unsere Speise,
die Freiheit und das Mitleiden Jesu Christi unsere Wegweisung und die Kraft des Heiligen Geistes
öffnete uns stets von neuem für Heilung, Wunder und Schönheit.
Es war klar, dass unsere Lebensweise nachdrücklich von Nächstenliebe und Mitgefühl geprägt war
und dass wir keine Gelegenheit versäumten, um Gott, das Leben und unsere Mitmenschen zu feiern
und freudig aufzunehmen. Einige führten die Tatsache, dass wir das Wirken des Geistes in den
Anhängern anderer Religionen immer mehr anerkannten, darauf zurück, dass wir den interreligiösen
Dialog als einen wesentlichen Teil des christlichen Lebens verinnerlicht hatten.
"Verurteilungen?", "Individualismus?", "Ich-zuerst-Haltung?", "Was ist das?", hörte ich eine Frau
fragen, als sie die freundliche Liebe Christi in der Gemeinschaft von Christen erlebte. Sie
konnte kaum glauben, was sie gehört hatte! Aufgewachsen in einem Kontext grenzenlosen Wettbewerbs
konnte sie sich nicht vorstellen, dass Leistungen und Empfehlungen vor Gott nicht zählen sollten.
Jetzt besuchte sie eine Gemeinde, in der Gastfreundlichkeit und Akzeptanz an der Tagesordnung
waren. AIDS-Kranke konnten sich dort im Geist Christi sicher und geborgen fühlen,
orientierungslose Jugendliche konnten Wegweisung finden, geschlagenen Frauen wurde Begleitung
angeboten und Kindern hörte man ernsthaft zu. Sie sah, wie das Reich Gottes, von dem sie
sprachen, ihnen Würde verliehen und ihrem Leben Sinn gegeben hatte. Sie wollte mehr erfahren über
dieses Evangelium von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz, das sich an den ganzen Menschen
wandte.
Ich sah auch, wie Kirchen und die missionarische Bewegung allgemein neue interaktive
Kommunikationsmodelle und Missionsstile unterstützten und förderten. Sie waren sich einig, dass
die komplexen und wandelbaren Situationen in der Welt in diesem neuen Jahrhundert die
Bereitschaft erforderten, sich auf die Risiken einzulassen, die mit neuen Ausdrucksformen der
Glaubenstreue gegenüber Jesus Christus verbunden sind, und ihnen lag daran, Verbindungen
untereinander herzustellen.
So traf ich auf eine grosse Zahl von asiatischen Missionaren, die eine neue Motivierung im Leben
Christi erkannt hatten und nun der Einladung gefolgt waren, auf Reichtümer zu verzichten und von
der Welt enttäuschten Jugendlichen geistliche Wegweisung zu vermitteln. Orthodoxe Kirchen hatten
Teile ihrer bekanntesten Klöster geöffnet, damit sie als Pilgerstätten und Rüstzeitorte für
Menschen dienen konnten, die sich vom Geist Gottes berühren lassen und spüren wollten, wie sie
von der Macht der Sünde in ihrem persönlichen Leben befreit werden.
Afrikanische und lateinamerikanische Evangelisten sahen es als ihre Aufgabe an, Gottes Willen für
das menschliche Leben dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass sie sich um eine stark menschlich und
geistlich orientierte Ausbildung ausgegrenzter Menschen bemühten. So wollten sie Jesus auf seinem
"präferentiellen Weg" mit den Armen nachfolgen, und sie empfanden ihren Dienst als ein zwar
geringes, doch nicht weniger machtvolles Gegengewicht zur Verlockung eines sich immer mehr
ausbreitenden Materialismus und zur Seelenlosigkeit durch den Verlust der eigenen Identität.
Bei einem anderen Missionsstil waren die besten Ressourcen und Talente aus Kirchen in allen
Teilen der Welt zusammengeführt worden, um öffentlich auf Themen im Zusammenhang mit
Weltwirtschaft, Biotechnologie und Umwelt eingehen zu können. Ich sah internationale
Missionsteams aus Experten in völlig neuen Kombinationen: Ethiker und Wissenschaftler, Künstler
und Gesundheitspersonal, Medienexperten und Evangelisten arbeiteten Seite an Seite daran, die
Werte des Evangeliums in den Realitäten der Welt zum Tragen zu bringen und ihre Erkenntnisse und
Ratschläge gemeinsam an die Ortskirchen weiterzugeben. Woanders sah ich ein weltweites Netz von
Nachfolge-Bewegungen, das eine elektronische Konferenz über "Frieden mit Gott, Frieden mit der
Schöpfung" veranstaltete.
Was mir an allen diesen Missionsformen auffiel, war ihre Qualität und ihre Integrität. Sie
vereinten die Sorge um Leib, Seele und Geist mit einer tiefen Solidarität mit allen Lebewesen.
Und die daran Beteiligten waren bemüht, ihre Erkenntnisse, Ergebnisse und Probleme miteinander
auszutauschen und wann immer möglich zusammenzuarbeiten. Selbstverständlich bezogen sie die
anderen regelmäßig in ihre Gebete mit ein. Der Kommunikationsfluss zwischen ihnen und das
gemeinsame Zugehörigkeitsgefühl verliehen ihnen eine außerordentliche Energie.
In meinen Träumen über Evangelisation gehörten die Marginalisierung und Nichtbeachtung dessen,
was Frauen zur Verkündigung des Evangeliums beizutragen haben, endgültig der Vergangenheit an.
Frauen arbeiteten auf den Leitungs- und Entscheidungsebenen mit und wurden eifrig ermutigt, die
ihnen von Gott geschenkten Talente zu entfalten. Die orthodoxen Kirchen hatten das Diakonat von
Frauen wiederbelebt, eine afro-brasilianische Frau stand an der Spitze einer grossen
internationalen evangelistischen Vereinigung und es wurde als nur natürlich erachtet, dass die
Mehrzahl der Bibelgesellschaften von Direktorinnen geleitet wurde.
Wenn Theologen vom Glauben der apostolischen Kirche sprachen, schlossen sie in dieses Konzept
selbstverständlich die dynamische Art und Weise ein, mit der Frauen den christlichen Glauben in
ihren Familien, Gemeinschaften und der breiteren Öffentlichkeit weitergegeben haben und noch
weitergeben. In allen Teilen der Welt tauchten Tausende und Abertausende Geschichten von dem
glaubenstreuen und phantasievollen Zeugnis der Frauen wieder auf, und die Namen und Taten von
Evangelistinnen wurden als integraler Bestandteil des kirchlichen Lebens gewürdigt und
gefeiert.
In einem ähnlichen Traum sah ich, wie aufgrund der zahlreichen Gelegenheiten zu interkulturellen
Begegnungen und Austausch neues Leben in Kirchen und einzelnen Christen und Christinnen
pulsierte. Die Kirchen in Ozeanien entdeckten durch ihr Engagement in Gemeinden in Asien Seiten
des Evangeliums, die sie als eine neue Herausforderung empfanden. Die Rivalitäten zwischen
Afrikanern aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen verschwanden. Kirchen, die sich bisher
blindlings ihrer nationalen oder ethnischen Identität verpflichtet gefühlt hatten, lernten, auch
die kritischen Aspekte des Evangeliums zuzulassen.
In Kanada, den USA, Australien und Grossbritannien hatten die Mitglieder christlicher Gemeinden,
die aus verschiedenen geographischen Regionen stammten, aber in der neuen Heimat Seite an Seite
lebten, gelernt, die engen Interessen der Selbsterhaltung zu überwinden. Zuvor hatten sie sich
Möglichkeiten geschaffen, um den Reichtum der guten Nachricht Gottes, wie sie sie erlebten und
erfuhren, miteinander zu teilen. Jetzt wandten sie sich der sie umgebenden Gesellschaft zu.
In den USA sah ich zum Beispiel, wie Amerikaner und Amerikanerinnen afrikanischer, koreanischer
und lateinamerikanischer Abstammung Gebets-Frühstücke in den ortsansässigen Unternehmen
organisierten. Oder wie Einwanderer aus Griechenland und Grossbritannien und von den
Pazifikinseln in Australien in Kunstausstellungen zeigten, wie Christus in ihrer Heimat
dargestellt wird. Und in Grossbritannien sah ich, wie Christen aus der Karibik mit ihren Brüdern
und Schwestern aus Afrika Nachbarschaftsvereine gründeten, um Arbeitslosen und Notleidenden zu
helfen. In Kanada hatten Gruppen eine Fernsehserie produziert, in der Menschen eingeladen wurden,
sich mit der Geschichte des Jesus von Nazareth zu beschäftigen. Die Sendung hiess: "Ist jemand zu
Hause?", und darin trat ein bekannter indianischer Schauspieler auf sowie Kinder aus
verschiedenen kulturellen Umfeldern.
Schliesslich und endlich fiel mir auf, dass die Wörter "Verkündigung" und "Evangelisation" für
Millionen Menschen ohne wirtschaftliche und politische Macht jetzt viel mehr nach Musik klangen
als nach "Modewörtern". Dank dem ewigen Neusein des Evangeliums hatten sie Gottes Geschenk der
Liebe und Erlösung entdeckt und Gottes Aufforderung an jeden einzelnen vernommen, sein volles
Menschsein zu entfalten. Als Ergebnis standen nun unzählige Dalits und Stammesvölker,
Slumbewohner und Migranten selbst an der Front gesellschaftlicher Erneuerung, kirchlicher
Wiederbelebung und der Verkündigung der Botschaft von Gottes befreiendem Willen.
Eine große Anzahl derer, die ihren Kulturen früher durch schlechte Missionsmethoden entfremdet
worden waren, konnten nun auch ihre Freude darüber äußern, dass sie Christi tiefe Solidarität mit
ihnen entdeckt hatten, und sie sprachen überzeugend von der verändernden Macht der frohen
Botschaft in ihrem Leben. Sie sagten: "Evangelisation hilft uns, uns als Teil der Schöpfung zu
fühlen und gleichzeitig als Bürger der Postmoderne, die durch Gottes Gnade beständig an Liebe und
Gerechtigkeit zunehmen."
Diese Gruppen praktizierten spontane Gebete und Lieder, interaktiven Gottesdienst und das
heilende Amt. Sie waren auch der Meinung, dass sie die erstaunliche Wirklichkeit der
Barmherzigkeit Gottes mit anderen teilen müssten. Und so stellten sie mit der Hilfe junger
Erwachsener (die der sogenannten "Generation X" angehörten) und mit geringem Kostenaufwand
attraktives Multimediamaterial her, das anderen dazu verhelfen sollte, die Geschichte von Jesus
Christus, wie sie in den Evangelien erzählt wird, mit neuen Augen zu sehen.
Diese Koalition war es übrigens, die verbreitet hatte, dass Diskussionen über die Eignung von
Suffixen1 im neuen Millennium überflüssig sein würden. Sie glauben fest daran, dass das Wort
Evangelium in den Mittelpunkt rücken wird und und genau das bedeuten darf, was es bedeutet: eine
über jeden Zwang erhabene, außerordentlich gute Botschaft.
Wie Sie sehen können, habe ich mich nicht von denen abhalten lassen, die sagen, dass es
willkürlich und falsch ist, von dem Beginn eines neuen Millenniums zu sprechen. Wenn ein magisch
klingendes Datum Träume wie diese hervorbringen kann, dann sollten wir wohl eher dankbar dafür
sein.
Mögen wir in diesem Jahr 2000 stark genug werden, um unsere Hoffnung in das Reich Gottes zu
verkörpern, so dass die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit unseres Dienstes der Evangelisation
kleiner wird.
Pfrin. Ana Langerak
BEITRÄGE AUS DER MISSIONARISCHEN PRAXIS
Die nachstehenden Beiträge sind ein "Gespräch" zwischen drei Personen,
die sich in der Evangelisationstheologie und praxis gut auskennen, über den Beitrag von Tito
Paredes "Eine singende missionarische Kirche" (Juni 1999). Martin Conway, Juan Sepúlveda und
Jesse Mugambi reflektieren über Aspekte des Evangelisationsprozesses und beziehen sich dabei auf
diesen bewegenden Bericht darüber, wie die Quechua ihre kulturellen Traditionen wiederentdecken
und durch sie ihren christlichen Glauben lebendig zum Ausdruck bringen.
Martin Conway, ein geschätzter ökumenischer Vordenker und Theologe aus der Kirche von England,
leitete dieses Gespräch damit ein, dass er eine interessante Analyse des Phänomens einsandte, das
er als den "Generationseffekt" bezeichnet, und anregte, einen oder zwei Missionswissenschaftler
zu Stellungnahmen einzuladen.
Das haben wir getan. Wir haben Martins Überlegungen an zwei herausragende Missionstheologen
geschickt: Jesse Mugambi, Professor für Philosophie und Religionsstudien an der Universität
Nairobi, Kenia, und Juan Sepúlveda, Pastor der Pfingstkirche und Dozent für Missionswissenschaft
an der Evangelikalen theologischen Gemeinschaft in Chile. Wir haben sie gebeten, diese
Überlegungen vor dem missionarischen Hintergrund ihrer jeweiligen Region zu prüfen, und sie sind
dieser Einladung gerne nachgekommen.
Das folgende "Gespräch" besteht aus vier Teilen: Martins Analyse, die scharfsinnigen Reaktionen
von Jesse und Juan sowie ein kurzer Schlusskommentar von Martin.
MARTIN CONWAY
Ich frage mich, inwieweit Tito Paredes Geschichte mit dem "Generationseffekt" zu
tun hat, der meines Wissens in Afrika und z.T. auch in China weit verbreitet ist. Es geht dabei
um Folgendes:
Die erste Generation von Bekehrten empfängt die Botschaft des Evangeliums von Fremden und von
denen, die engen Kontakt zu Fremden haben. Wenn sie diese Botschaft annehmen, dann nehmen sie sie
als etwas Willkommenes an, weil sie ihre "Welt", die aus der engen Familie und dem Dorf besteht
und wo sich die Menschen häufig gefangen fühlen, erweitert.
Die zweite Generation übernimmt den Glauben der Eltern und ist diesem Erbe treu, wenn sie auch
oft nicht mehr den Eindruck von etwas Neuem hat, das ihr Leben verändert.
In der Regel ist es die dritte Generation (oder eine noch spätere), die die Freiheit hat, wieder
auf ihre eigene Kultur, d.h. traditionelle Musik und Zeremonien, zurückzugreifen, ohne deren
religiöses und gesellschaftliches Gewicht zu empfinden, das sie noch für ihre Großeltern gehabt
haben. Daher sehen sich die Angehörigen dieser Generation, die von Geburt an Christen sind, in
der Lage, Elemente der örtlichen Kultur in ihr Leben und ihren Gottesdienst hineinzunehmen - auf
eher "postmoderne" Art und Weise: Sie wählen "Teile" aus und fügen sie in das "Ganze" ein, das
sie geschaffen haben.
Da ich im besten Fall lediglich ein wohlwollender Außenstehender bin, schlage ich vor, dass
vielleicht zwei Missionstheologen bzw. -theologinnen aus dem Süden etwas über den
"Generationseffekt" aussagen.
JESSE MUGAMBI
Als Reaktion auf Martins Hypothese möchte ich sagen, dass der
Evangelisationsprozess um einiges komplexer ist als er vermuten lässt.
Merryl C. Tenney spricht in seinem Buch New Testament Survey von drei zyklischen Phasen
des Missionierungsprozesses: "Einführung", "Ausbreitung" und "Konsolidierung". J.V. Taylor, der
viele Jahre lang als Missionar in Afrika gearbeitet hat, beobachtet ebenfalls drei zyklische
Phasen, die er als "Identifizierung, Loslösung und Krise" bezeichnet. Martins Analyse gleicht
eher Taylors Beschreibung als Tenneys.
Ich habe mich in einigen meiner Veröffentlichungen ziemlich ausführlich mit den Prozessen der
Evangelisation beschäftigt, und meine Untersuchungen haben ergeben, dass diese Prozesse eher
simultan als konsekutiv ablaufen. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich in diesem Zusammenhang
geschrieben:
"In Ostafrika vollziehen sich diese drei Prozesse gleichzeitig. So gibt es Gebiete, in denen das
Christentum noch eingeführt wird, und solche, in denen es bereits eingeführt worden ist und sich
nun ausbreitet und wo gleichzeitig Theologen, Pastoren, Lehrer und Laienführer begonnen haben,
sich Gedanken zu machen und zu definieren, welches angesicht der Herausforderungen unserer Zeit
das Wesen, die Rolle und die Orientierung der Kirche sind.
Anhand meiner eigenen Erfahrungen kann ich sagen, dass der Missionsprozess gleichzeitig Annahme,
Ablehnung und Gleichgültigkeit hervorruft. Diejenigen, die das Evangelium so, wie es von den
Missionaren und deren lokalen Beauftragten gepredigt wird, annehmen, werden die empfangene
Botschaft auf ihre Weise auslegen, je nachdem, welche Missionsstrategien angewandt worden sind.
So können beispielsweise die importierten kirchlichen Strukturen in manchen Gebieten
jahrhundertelang unverändert bleiben, während Kirchen fremden Ursprungs in anderen Regionen
innerhalb ein und derselben Generation kritisiert und verändert werden.
Sehr häufig bestimmt die Bildungspolitik darüber, wie das Christentum gesehen und angenommen
wird. In den ehemaligen portugiesischen, französischen und belgischen Kolonien des tropischen
Afrika erforderte die Anpassungspolitik, dass die afrikanischen Bekehrten ihre "primitive" Kultur
aufgaben, wenn sie als "Entwickelte" oder "Assimilierte" gelten wollten. Diese Politik hat viele
Generationen überdauert, und die Entkolonialisierung hat kaum etwas daran geändert.
In den ehemaligen britischen Kolonien erlaubte es die Politik der "indirekten Herrschaft" den
Afrikanern, die Missionspolitik bereits in der ersten Generation der Einführung des Christentums
zu kritisieren. So konnte Jomo Kenyatta sein bekanntes Buch Facing Mount Kenya als eine
Kritik der ersten Generation an der britischen protestantischen Missionspolitik in Kenia
veröffentlichen. A.J. Temu zeigt in seinem Buch British Protestant Missions auf, dass
Afrikaner bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorurteile des britischen
Durchschnittsmissionars kritisierten, der zu der Zeit in Kenia arbeitete. Auch im südlichen
Afrika, wo die Politik der indirekten Herrschaft gleichermaßen galt, gab es bereits innerhalb der
ersten Generation zahlreiche Afrikaner, die das missionarische Unternehmen kritisierten. Dasselbe
gilt auch für Westafrika, speziell Ghana und Nigeria.
Die Gründe für Annahme, Ablehnung und Gleichgültigkeit sind vielfältig. In den meisten Fällen hat
die Annahme mit dem "Angebot" zu tun, das mit einer bestimmten "Marke" des Christentums
einhergeht und mit anderen Marken verglichen werden kann. Die potentiellen Konvertiten werden
diejenige Marke des Christentums annehmen, die ihnen helfen kann, mit der Bedrohung fertig zu
werden, die die kulturelle Invasion für ihr Überleben darstellt. Wenn sie dabei nicht helfen
kann, wird sie abgelehnt. Wenn sie folgenlos bleibt, bleiben die potentiellen Konvertiten
gleichgültig.
Welcher theologische Sinn ergibt sich nun aus diesen Prozessen? Sie begegnen uns schon im Neuen
Testament, sogar in dem Moment, da Jesus die christliche Gemeinschaft begründete. Die Jünger
waren keine homogene Gruppe. Sie hatten recht unterschiedliche Charaktere. Ebenso hatten die
Menschen, denen Jesus begegnete, unterschiedliche Interessen und Einstellungen, und Jesus ging
auf jeden angemessen ein. Die Apostelgeschichte beschreibt eine breite Skala von Reaktionen auf
das Evangelium, von begeisterter Annahme bis zum Skeptizismus der Epikureer.
In Grossbritannien dauerte es fast ein Jahrtausend, bis der römische Katholizismus auf
kontextuelle Kritik stiess, und selbst dann schien sie eher von der Krone als von der Laienschaft
auszugehen. Es mussten erst Martin Luther und andere Reformatoren kommen, ehe das römische
Christentum in West- und Nordeuropa kritisiert wurde.
Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass der "Generationseffekt" als Hypothese zu einfach
ist, um die Prozesse der Annahme, Ablehnung und Gleichgültigkeit zu erklären, die sichtbar
werden, wo immer die christliche Missionstätigkeit spürbaren Einfluss genommen hat.
JUAN SEPÚLVEDA
Martin Conways Überlegungen zum "Generationseffekt" im Zusammenhang mit der
Geschichte "Eine singende missionarische Kirche" sind für eine Reihe von spezifischen Situationen
sicherlich zutreffend. Dennoch müssen in der Frage, wie Neubekehrte das Evangelium bewusst mit
der einheimischen oder traditionellen Kultur verbinden, mindestens noch zwei weitere Faktoren
beachtet werden.
Der erste betrifft die Einstellung des Missionars (oder der Missionare) zur örtlichen,
einheimischen oder traditionellen Kultur. Die Ablehnung der örtlichen Tradition durch die erste
Generation der Bekehrten kann nicht zwangsläufig mit ihrem Verlangen, "ihr Weltbild zu
vergrößern", erklärt werden. Hinzu kommt die Tendenz der Missionare, die meisten Aspekte der
lokalen Kultur zu "verteufeln". Tito Paredes sagt dazu: "Den Christen unter den Quechuas wurde
gelehrt, dass sie einige der wertvollen Elemente ihrer eigenen Kultur aufgeben müssten."
Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Zeit, die die Mission braucht, bis sie Raum für eine echte
Mitwirkung einheimischer Christen in Kirchenleitung, christlicher Unterweisung und theologischer
Reflexion geschaffen hat. Solange die Mission die Standards dafür setzt, was einen echten
christlichen Gottesdienst und ein wahres christliches Leben ausmacht, hängt die Freiheit, wieder
traditonelle Musik und Zeremonien einzuführen, eher von den Missionaren als den Bekehrten ab.
Die chilenische Pfingstbewegung bietet ein gutes Beispiel für beide Faktoren. Sie wurzelt in der
Erfahrung einer Pfingstkirche, die zwar von Anfang an selbstverwaltet war, deren Führer jedoch
(er war rd. 20 Jahre im Amt) ein ehemaliger methodistischer Missionar blieb. Das bedeutete, dass
zwar sofort ein unbewusster Prozess der "Chilenisierung" einsetzte, eine bewusste Chilenisierung,
d.h. Einführung von Instrumenten und Musik der chilenischen Mestizo-Kultur in den Gottesdienst,
erst dann beginnen konnte, als der Gründungsmissionar seinen Einfluss verloren hatte.
Bezeichnenderweise geschah das, als in der Kirchenleitung noch Chilenen der ersten Generation
saßen. Anscheinend hat etwas ganz Ähnliches im Fall der sogenannnten "in Afrika entstandenen
Kirchen" stattgefunden.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass Martins Thesen zum "Generationseffekt" wohl eher auf den
Kontext abhängiger Missionskirchen zutreffen.
MARTIN
Ich bin Jesse und Juan sehr dankbar, dass sie sich mit meiner äußerst
summarischen Hypothese zum Vorhandensein einer typischen "Generationslücke" zwischen Rezeption
und Inkulturation des christlichen Glaubens auseinandergesetzt haben. Sie haben viel dazu
beigetragen, die "Lücke" mit Erläuterungen und Korrekturen aus ihrem jeweiligen Umfeld zu füllen.
Ich begrüße besonders Jesses Hinweis, dass Annahme, Ablehnung und Gleichgültigkeit häufig
gleichzeitig anzutreffen sind, und Juans Erinnerung daran, dass die Bereitschaft zur Hineinnahme
von Traditionen und Musikinstrumenten der einheimischen Kultur häufig von der Einstellung der
ersten Missionare abhängt. Ich bin ihnen für diese Korrekturen wie auch für die weiteren
Überlegungen dankbar.
Trotzdem "glaube" ich, dass es oft (aber weder automatisch noch zwangsläufig) einen grossen
Unterschied gegeben hat zwischen der Art und Weise, wie eine erste Gruppe von Christen das
Evangelium versteht und verkörpert und wie es am selben Ort deren Nachkommen zwei oder drei
Generationen später tun.
Natürlich kann dieser Prozess des Generationenwandels überall beobachtet werden, weil kaum eine
Generation die genaue Kopie ihrer Eltern ist (insbesondere in Zeiten so rascher Veränderungen wie
wir sie heute kennen!). So ist es hier in Grossbritannien angesichts der rasanten
Amerikanisierung weiter Teile unseres kulturellen Lebens nicht abwegig, wenn sich einige
Mitglieder der jetzigen Generation von "typischen" britischen Eltern und Großeltern Sorgen
machen, wenn sie feststellen, in welchem Masse ihre Kinder oder Enkel amerikanische Versionen des
christlichen Glaubens den altvertrauten "britischen" vorziehen.
Das exakte Verhältnis von Glaube und Kultur bewegt sich weiter und immer weiter und auf eine
Weise, die niemals genau vorherbestimmt werden kann. Es ist jedoch immer interessant, das
Geschehen zu verfolgen und abzuschätzen, wie es der Absicht Gottes für sein kommendes Reich
dienen kann - oder nicht.
Paz y bien
Referentin für Mission und Evangelisation
P.S. Ich freue mich, dass ich in diese Ausgabe einige interessante "Beiträge aus der
missionarischen Praxis" aufnehmen kann. Ich bin sicher, sie können Ihnen einige Denkanstöße
geben. Aus Platzgründen werden wir die neuen Leserbriefe in der nächsten Ausgabe abdrucken.
HINWEIS FÜR UNSERE LESER UND
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