EINLEITUNG
Angesichts der dramatischen Entwicklung der Situation von
Flüchtlingen, Vertriebenen und Migranten in allen Teilen der Welt nahm der
ÖRK-Zentralausschuss am 22. September 1995 einstimmig die vorliegende
"Erklärung zu entwurzelten Menschen" an. Darin ruft er die Kirchen in aller Welt auf,
diese Entwicklung als eines der grossen Probleme unserer Zeit zu begreifen und mutig zu
handeln, um Kirche des Fremden zu werden, indem sie Flüchtlinge, Migranten und
Vertriebene willkommen heissen und ihnen zur Seite stehen.
Um neuartiges und profiliertes Handeln zu fördern, erklärte der Zentralausschuss
1997 zum
"Ökumenischen Jahr der Solidarität der Kirchen mit entwurzelten Menschen".
Das vorliegende Dokument plädiert für eine Neudefinition des Begriffs der
"entwurzelten Menschen", die all jene umfasst, die aus politischen, umweltbedingten und
wirtschaftlichen Gründen zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen sind. Die
Erklärung befürwortet eine Reihe neuer Konzepte sowie eine Erweiterung der
Menschenrechte um das Grundrecht des Menschen, sicher und in Würde in seinem
Heimatland zu leben.
Konsultationsprozess
Ein Redaktionsausschuss, dem Fachleute aus Kirchen in sechs Regionen der Welt
angehörten, beriet den Zentralausschuss bei der Formulierung der Erklärung.
In der Erklärung werden die Kirchen aufgerufen, sich mit allem Nachdruck für
entwurzelte Menschen einzusetzen, um ihr Zeugnis und ihre Anwaltschaft glaubwürdig
und wirksam werden zu lassen.
In einer Resolution zur Annahme der Erklärung rief der Zentralausschuss die
Mitgliedskirchen und kirchlichen Hilfswerke auf,
Um eine weltweite Kampagne anzuregen, in deren Rahmen die Kirchen zu gemeinsamem
Handeln mobilisiert werden können, rief der Zentralausschuss die Kirchen auf,
"umgehend Massnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit und Wiedereingliederung von
Rückkehrern und im eigenen Land Vertriebenen zu gewährleisten, indem sie in
den Ortsgemeinden Unterschriften sammeln, um gegen die Herstellung von
Anti-Personen-Minen zu protestieren".
Wir stellen Ihnen gerne weiteres Material über die in dieser Erklärung
angesprochenen Fragen und Aktivitäten zur Verfügung. Zu der Erklärung
haben wir ein Hintergrunddokument zusammengestellt, das ausführliche Informationen
zum Thema gibt.
Pfrin. Myra Blyth
Die Erklärung ist das Ergebnis eines ungewöhnlich
umfangreichen Konsultations- und Beratungsprozesses über einen Zeitraum von 15
Monaten, an dem sich Mitgliedskirchen und Partnerorganisationen in aller Welt beteiligt
haben. Sie ist mehr als ein von Experten verfasstes Dokument, nämlich eine
Zusammenstellung der von weltweit rund 100 nationalen und internationalen kirchlichen
Gremien schriftlich unterbreiteten Anliegen. Viele dieser Gremien haben ihren Beitrag auf der
Grundlage von Gesprächen mit ihrer Mitgliedschaft ausgearbeitet.
Direktorin der
Programmeinheit IV - Teilen und Dienst
Auf allen Kontinenten werden Menschen durch Gewalt und
Verzweiflung gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Millionen sind vertrieben worden und
warten auf eine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Die Kriege ziehen sich
hin und infolgedessen verschlechtern sich die wirtschaftliche Lage und die ökologischen
Bedingungen in vielen Ländern - für entwurzelte Menschen wird es immer
schwieriger, eine Lösung zu finden. In allen Teilen der Welt schließen die
Regierungen die Grenzen. Allzu viele Kirchen wenden sich ab von den Fremden, die an ihre
Tür klopfen.
Hinter dem massiven, weltumspannenden Problem der Entwurzelung in der heutigen Welt
verbergen sich Geschichten persönlichen Leides, auseinandergerissener Familien und
Schmerzen. Mehr als jeder fünfzigste Mensch ist heute Flüchtling oder
internationaler Migrant. Die meisten von ihnen sind Frauen, Jugendliche und Kinder. Die
überwiegende Mehrheit verlässt Länder im Süden und bleibt im
Süden.
Menschen verlassen ihre Gemeinschaft aus vielerlei Gründen und tragen vielerlei
Namen:
Flüchtlinge, Vertriebene im eigenen Land, Asylsuchende, Wirtschaftsflüchtlinge.
Als Kirchen
helfen wir allen, die durch schwierige politische, wirtschaftliche und soziale Bedingungen
gezwungen sind, ihr Land und ihre Kultur zu verlassen - unabhängig von der
Bezeichnung, die
andere ihnen geben mögen. Entwurzelte Menschen sind Menschen, die gezwungen sind,
ihre
Gemeinschaften zu verlassen: sie fliehen vor Verfolgung und Krieg, sie werden wegen
Umweltzerstörung zwangsweise umgesiedelt oder müssen in einer Stadt bzw. im
Ausland nach
Unterhaltsmöglichkeiten suchen, weil sie zu Hause nicht überleben können.
Im Mittelpunkt
dieser Erklärung stehen die Entwurzelten, wobei wir natürlich nicht vergessen,
daß viele andere weiterhin in äußerst schwierigen Situationen leben.
Auch wenn die Wanderbewegungen ganzer Bevölkerungsgruppen in den letzten Jahren
an Geschwindigkeit zugenommen haben - sie waren schon immer Teil der
Menschheitsgeschichte. Obwohl wir alle in einer multikulturellen, multiethnischen,
multireligiösen und vielsprachigen Gesellschaft leben, sehen wir den Fremden nicht
immer als Christus unter uns. Wenn Kirchen sich dem Fremden in ihrer Mitte
verschließen, wenn sie nicht mehr nach einer integrativen Gemeinschaft streben, die
Zeichen und Vorwegnahme des Reiches Gottes ist, verlieren sie ihre
Daseinsberechtigung.
Wir rufen die Kirchen in aller Welt auf, ihre Identität, Integrität und Berufung als
Kirche des Fremden neu zu entdecken. Der Dienst an entwurzelten Menschen wurde schon
immer als Diakonie anerkannt, obwohl er im Leben vieler Kirchen eine marginale Stellung
einnimmt. Wir bekräftigen jedoch, daß es sich auch um eine kirchliche Frage
handelt. Wir sind eine Kirche des Fremden - die Kirche Jesu Christi, des Fremden.
(Matthäus 25, 31-46)
Angesichts der zunehmend restriktiven Ausländerpolitik der Regierungen und der
wachsenden Fremdenfeindlichkeit der Öffentlichkeit in allen Teilen der Welt stehen die
Kirchen vor einer noch nie dagewesenen Alternative: Werden sie sich dafür entscheiden,
Kirche des Fremden zu sein und sich auf die Seite der Entwurzelten zu stellen, oder werden
sie sich abwenden und die Frage ignorieren? Werden sie die Problematik der Entwurzelung
ihren Flüchtlingsprogrammen überlassen oder werden sie den Ausdruck der
Universalität des Evangeliums und die Heimat für diejenigen verkörpern,
die nach Anerkennung ihrer Menschenwürde streben?
Koinonia verlangt einen hohen Preis und stellt uns vor die Herausforderung, mit allen
Konsequenzen das Risiko einzugehen, uns für andere hinzugeben. In einigen
Ländern ist es gefährlich, mit entwurzelten Menschen zu arbeiten. Vielerorts wird
es in den örtlichen Gemeinden nicht gerne gesehen, wenn man auf die Entwurzelten
eingeht, denn man befaßt sich schon mit den vielen dringenden Problemen "unserer
eigenen Leute". Wenn die Kirchen die Ursachen einer solchen Entwurzelung kritisieren, dann
müssen sie auch bereit sein, den Preis zu zahlen, den eine Konfrontation mit den
etablierten Kräften und den Privilegierten mit sich bringt.
Diese Erklärung richtet sich an die Kirchen. Als christlicher Haushalt müssen wir
unsere Unzulänglichkeiten anerkennen und eingestehen. Und wir müssen auf
Umkehr und Erneuerung hinarbeiten. Die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses und
unserer Fürsprache muss sich ebenso auf unsere Erfahrung und unser Engagement wie
auf unsere Überzeugungen stützen.
Entwurzelte Menschen erinnern uns an die Ungerechtigkeit unserer Welt. Der Verfall im
sozialen, politischen und menschenrechtlichen Bereich macht es dringend erforderlich,
daß wir uns mit der Sündhaftigkeit ungerechter Systeme und Strukturen
befassen.
WIR SIND EMPÖRT ÜBER DIE GEWALT UND UNGERECHTIGKEIT, DIE
MENSCHEN ENTWURZELT, UND ÜBER DAS DADURCH VERURSACHTE
LEIDEN
Die vielfachen Ursachen von Vertreibung:
1. Krieg, Bürgerkrieg, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung aus politischen,
religiösen, ethnischen oder gesellschaftlichen Gründen sind in allen Regionen zu
finden und sind gegenwärtig die Hauptursachen für die Vertreibung von
Menschen.
In der Vergangenheit unterdrückte ethnische und Nationalitätenkonflikte sind im
letzten Jahrzehnt explosionsartig in offene Kriege umgeschlagen. Religion und ethnische
ugehörigkeit werden für engstirnige nationalistische Ziele eingesetzt und spalten
pluralistische Gesellschaften. Immer mehr Zivilpersonen werden Opfer von Gewalt - z.T.
aufgrund der verbreiteten Verfügbarkeit von Waffen und gegen Menschen gerichtete
Minen. Millionen sind durch Gewalt entwurzelt worden: 30 Millionen sind Flüchtlinge
innerhalb der eigenen Landesgrenzen, und weitere 19,5 Millionen flohen in andere
Länder.
Gewalt gegen Personen, Gemeinschaften und ganze Völker führt in vielen
Ländern zur Zerstörung des sozialen Gefüges, der wirtschaftlichen
Infrastruktur und der Umwelt. Die Zerstörung von Gemeinschaft ist die Hauptursache
von Zwangsmigration.
In Kriegs- und Konfliktsituationen wird sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen
zum strategischen Mittel einer Kriegsführung, die die Vergewaltigung von Frauen und
Mädchen für politische Zwecke einsetzt, Männer wie Frauen erniedrigt,
Gemeinschaften vertreibt und ihr Leben zerstört.
Verbreitete Menschenrechtsverletzungen sind immer noch einer der Hauptgründe
für Asylgesuche. In vielen Ländern wird Männern, Frauen und Kindern ein
faires Gerichtsverfahren verweigert; sie werden gefoltert, entführt und ermordet. Frauen
und Mädchen werden oft sexuell mißbraucht und vergewaltigt.
Die systematische Vertreibung von Ureinwohnern und Völkern die unter
Kolonialherrschaft leben, mit dem Ziel, ihr Land und ihre Bodenschätze zu enteignen, ist
auch weiterhin eine brutale Form, Menschen gewaltsam zu entwurzeln.
2. Der weitgehende Zusammenbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme, die
den Menschen bisher das Überleben in ihren traditionellen Gemeinschaften und ihren
eigenen Ländern ermöglichten, beschleunigt die Wanderungsbewegungen.
Ursächlich für diesen Zusammenbruch der Existenzgrundlagen ist die
Globalisierung der Weltwirtschaft. Dieser Prozess schafft auch weiterhin ein starkes und
wachsendes Gefälle im Reichtum und im Einkommen innerhalb der Staaten und
zwischen den Staaten. Die Ausweitung der Handelsbeziehungen wirken sich nachteilig auf die
wirtschaftlich schwachen Länder aus.
Umfangreiche technische Innovationen erhöhen die "Effizienz" von Produktion und
Dienstleistungen, tragen aber gleichzeitig zu arbeitsplatzlosem Wachstum bei. Die
Dauerarbeitslosigkeit nimmt in allen Regionen zu und führt zu vermehrter
Marginalisierung, Ausgrenzung und Abwanderung. Die vorwiegend kapitalintensiven
Investitionen schaffen nicht genügend Arbeitsplätze für die zunehmende
Anzahl von Menschen im arbeitsfähigen Alter.
Zunehmende Verschuldung zusammen mit von außen aufgezwungenen
Maßnahmen zur strukturellen Anpassung und eine restriktive Steuerpolitik machen den
Menschen das Überleben schwer. Gleichzeitig ziehen sich viele Regierungen aus der
Zuständigkeit für Sozialprogramme zurück. Ihre Entscheidung, die
Ausgaben für soziale Belange wie Gesundheit und Erziehung zu kürzen und
gleichzeitig ihre Militärausgaben zu erhöhen, trägt zur Verarmung und
letztendlich zur Destabilisierung bei.
Die Folgen struktureller Anpassungsprogramme für das Leben der Menschen schlagen
sich vor allem in der Zunahme von Säuglingssterblichkeit, Mangelernährung,
vermeidbaren Krankheiten und Analphabetismus bei den Kindern in den
"Entwicklungs"ländern nieder. Die größte Last tragen die Frauen, die als
Haupternährerinnen mit allen Mitteln versuchen, ihre Familien durchzubringen. Immer
mehr Menschen haben keine andere Wahl, als ihre Gemeinschaft zu verlassen, um Arbeit und
Brot zu finden.
Rund 10 Millionen Menschen werden jedes Jahr in der Folge von gezielten
"Entwicklungs"programmen umgesiedelt. Dazu zählt die Überflutung
großer Gebiete durch Staudämme oder die Einführung vollmechanisierter
Landwirtschaftsbetriebe anstelle des Anbaus für den Eigenbedarf.
3. Umweltzerstörung erweist sich als einer der wichtigsten Gründe für die
Vertreibung von Menschen in großem Umfang.
Die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt - einschließlich Entwaldung,
Schwinden der Erdkrume, Versteppung - und die nicht rückgängig zu machende
Erosion von Ackerland führen dazu, daß traditionelle Kulturlandschaften
unbewohnbar werden. Schätzungen gehen davon aus, daß heute 10 bis 25
Millionen Menschen aus Umweltgründen vertrieben wurden.
Die Herstellung sowie das Testen und Stationieren von Waffen bei "friedlichen"
Manövern und in Kriegszeiten haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Umwelt
und machen es unmöglich, das Land für eine umweltverträgliche
Bewirtschaftung und damit für das Überleben der Menschen zu nutzen. Die
wiederaufgenommen Atomtests gefährden auch weiterhin das Überleben der
Gemeinschaften und führen zur dauerhaften Vertreibung von Menschen in dieser
Region.
Das Ansteigen des Meeresspiegels und die zunehmende Stärke von Stürmen,
Zyklonen, Flutwellen und Erdbeben, lassen auf größere Wanderbewegungen in
der nahen Zukunft schließen. Diese Vorboten einer weltweiten Erwärmung
führen zum Untergang von Inselstaaten und anderen dicht bevölkerten
Tieflandzonen in den nächsten Jahrzehnten, wenn diesem Klimawandel nicht Einhalt
geboten wird.
Die Erschöpfung natürlicher Rohstoffe zusammen mit einer Verschlechterung der
Wirtschaftslage zwingt die Menschen nicht nur dazu, ihre Gemeinschaften zu verlassen,
sondern trägt darüber hinaus zu Auseinandersetzungen um knapper werdende
Ressourcen bei.
Die Abkehr von den Entwurzelten:
Weltweit läßt sich die Tendenz beobachten, daß die Verantwortung
gescheut wird, sich mit den Ursachen und Auswirkungen der Zwangsvertreibung von
Menschen auseinanderzusetzen. Während letztlich keine Gesellschaft eine unbegrenzte
Anzahl von Vertriebenen aufnehmen kann, werden zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenige
Mittel darauf verwandt, den Bedingungen vorzubeugen oder sie abzubauen, die die eigentliche
Ursache der Entwurzelung von Menschen sind.
In allen Teilen der Welt nimmt die Solidarität der Öffentlichkeit mit den Menschen
ab, die vor Gewalt und Armut fliehen. Der gefährliche Anstieg von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit findet häufig Ausdruck in Gewaltakten gegen Flüchtlinge
und Einwanderer. Diese werden oft zum Sündenbock für zahlreiche soziale und
wirtschaftliche Spannungen in der Gesellschaft und zur Zielscheibe eines wachsenden
Hasses.
In vielen Ländern stellt diese Kombination von öffentlicher Feindseligkeit und
restriktiven staatlichen Maßnahmen eine Bedrohung für Rechtsprechung und
demokratische Werte dar. Die vorgeschlagenen oder bereits in Kraft gesetzten
Maßnahmen zur Kontrolle des Zugangs von Ausländern beschneiden in der Regel
ebenfalls die Bürger- und Menschenrechte der Staatsangehörigen und
Einwohner.
Die Normen des Völkerrechts über das besondere Schutzbedürfnis
entwurzelter Frauen und Kinder werden nicht respektiert.
Einige führende religiöse Persönlichkeiten vermeiden es heute oder lehnen
es ausdrücklich ab, sich der verbreiteten Gewalt gegen Ausländer oder "andere"
zu widersetzen. Zu viele religiöse Einrichtungen, auch Kirchen, bleiben
gleichgültig. Zu wenige Gemeinden heissen Neuankömmlinge anderer rassischer,
ethnischer oder nationaler Herkunft willkommen oder nehmen sie auf. Zahlreiche Kirchen und
Christen sind in Strukturen eingebunden, die Menschen ausgrenzen und
unterdrücken.
Die Folgen der Entwurzelung für die Menschen:
Entwurzelte Menschen erleben vielfältige Verluste: Familie, Freunde und Gemeinschaft,
spirituelle, religiöse, und kulturelle Bindungen, die ihre Identität festigen und
bestimmen, sozialer Status, Eigentum, Arbeit und finanzielle Mittel. Meistens müssen
sie mit mehreren Problemen gleichzeitig fertig werden. Für Menschen aus
ländlichen Regionen oder Angehörige von Urvölkern führt der
Landverlust zum Verlust von wirtschaftlicher Selbständigkeit und kultureller und
spiritueller Identität.
Gewalt, Ablehnung und rassistische Feindseligkeit gegen entwurzelte Menschen
verstärken die Traumata der Zwangsmigration durch eine Einschränkung der
Bewegungsfreiheit, der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und der Möglichkeit,
am Ort der Zuflucht oder des vorübergehenden Aufenthalts Arbeit zu finden und
Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Diese Form von Gewalt und Ungerechtigkeit
gehört zu der weltweit wachsenden Welle von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und
schafft Privilegien und Sicherheit für die einen und Unsicherheit und Ausgrenzung
für die anderen.
Die Eingriffe in das Leben von Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg haben
besonders schwerwiegende Folgen. Frauen und Kinder sind am stärksten betroffen. Die
Bedrohung durch und die Folgen von sexueller Gewalt gegen entwurzelte Frauen und
Mädchen verletzen ihre Menschenwürde und persönliche Integrität
und erschweren ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Ihr körperliches,
seelisches und psychisches Wohlbefinden wird schwer geschädigt.
Organisierter Menschenhandel ist eine neue Form der Sklaverei; er zerstört die
Menschenwürde und das Wohl einzelner Menschen und ganzer Familien.
Das Herausreißen der Kinder aus ihren Familien und ihren Gemeinschaften macht sie
besonders anfällig für Bedrohungen ihres Lebens und ihrer Sicherheit. Kinder, die
in Flüchtlingslagern und in Kriegs- oder Konfliktsituationen leben, können nicht
mehr zur Schule gehen und haben daher Bildungsmängel. Das hat langfristige Folgen
sowohl für die Kinder als auch für die Gesellschaft.
Die Gewalt und Ungerechtigkeit, die zur Entwurzelung von Menschen führt, und das
daraus entstehende Leid stellen uns vor die Herausforderung, unsere Überzeugungen als
Grundlage für eine christliche Antwort neu zu formulieren.
ALS CHRISTEN HABEN WIR DIE FOLGENDEN ÜBERZEUGUNGEN
1. Wir bekräftigen die Unantastbarkeit allen menschlichen Lebens und die Heiligkeit der
Schöpfung.
"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde... Und Gott sah, daß es gut war... Und Gott
schuf den Menschen zu seinem Bilde..." (1. Mose 1)
Alle Menschen sind nach Gottes Bild geschaffen. Die Achtung der Menschenwürde und
der Wert jedes und jeder einzelnen ungeachtet von Alter, Fähigkeiten, ethnischer
Herkunft, Geschlecht, Klasse, Nationalität und Religion sind grundlegend für
unseren Glauben. Unser Glaube verpflichtet uns dazu, dafür zu sorgen, daß das
menschliche Leben und die körperliche und persönliche Sicherheit durch Recht
und Institutionen gewahrt bleiben.
Keine Gesellschaft kann in Frieden mit sich oder der Welt leben, ohne sich des Wertes und der
Würde jedes menschlichen Wesens und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens
voll bewußt zu sein.
Die Schätze der Erde sind uns anvertraut worden, und deshalb sind wir für den
Schutz und die Pflege der Schöpfung verantwortlich. Wo die Schöpfung nicht
gepflegt wird, werden die Menschen vertrieben.
Wir Christen werden ermutigt durch die prophetische Tradition und durch das Kapitel 21 der
Offenbarung, die uns ein Bild Gottes vermitteln, der beständig "alles neu macht" und
uns auffordert, uns an seinem Erneuerungswerk zu beteiligen .
2. Die biblischen Werte Liebe, Gerechtigkeit und Frieden zwingen uns dazu, die christliche
Antwort auf Marginalisierung und Ausgrenzung zu erneuern.
"... 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von
ganzem Gemüt'. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere
aber ist dem gleich: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'. " (Matth. 22,
37-39)
Das Reich Gottes ist die Vision einer gerechten und geeinten Welt. Die Herausforderung der
Prophezeiung und der Lehre Jesu besteht darin, Christen zu befreien und in die Lage zu
versetzen, den Mut aufzubringen, für eine neue Gemeinschaft und für Frieden und
Gerechtigkeit zu arbeiten - und das bedeutet, sich mit den Ursachen der Entwurzelung zu
befassen.
Der Kern der Lehre Jesu ist das Gebot, Gott zu lieben, und seinen Nächsten zu lieben
wie sich selbst. Die Christen sind dazu aufgerufen, der Frohen Botschaft der Entscheidung
Gottes zugunsten der Marginalisierten und Ausgegrenzten zu folgen. Die Liebe Christi kennt
keine Bedingungen. Jesus zögerte nicht, den Preis der selbstaufopfernden Liebe zu
zahlen.
Der Prophet Micha (6,8) fordert die Gläubigen auf, Gottes Wort zu halten, Liebe zu
üben und demütig zu sein vor ihrem Gott. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen
Frieden, und ohne Frieden keine völlige Gerechtigkeit. (Amos 5,24) Unser Glaube
verpflichtet uns dazu, für Gerechtigkeit und Frieden für alle zu kämpfen; an
einer Welt zu arbeiten, in der wirtschaftliche, politischen und soziale Einrichtungen den
Menschen dienen und nicht umgekehrt.
In der Tradition der Erlaßjahre (3. Mose 25, 5. Mose 15, Jesaja 61, 1-2) ist das
Erbarmen an die erneute Selbstverpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit gebunden. Das
Erlaßjahr ist eine neuer Anfang, ein Ausgangspunkt für einen Prozeß der
Versöhnung und des Wiederaufbaus der Gemeinschaft, der neue Hoffnung keimen
läßt.
3. Die Bibel fordert uns auf, integrative Gemeinschaften zu bilden und die Entwurzelten in
Dienst und Zeugnis zu begleiten.
So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen
und Gottes Hausgenossen. (Eph. 2, 19)
Jesus selbst wurde von vielen Angehörigen seines eigenen Volkes geächtet, weil
er sich mit den Ausgestossenen und Ausgegrenzten identifizierte. Das Evangelium berichtet,
dass Jesus die Liebe zum Fremdling und die Feindesliebe zum Grundstein der integrativen
Gemeinschaft der Kinder Gottes gemacht hat. Darin folgte er der Tradition des Alten
Testaments, die gebietet, den Fremdlingen Gastrecht zu gewähren (2. Mose 23,9; 3.
Mose 19,33-34; 5. Mose 24, 14-19; Jeremia 5-7).
Die Christen sind dazu aufgerufen, sich auf die Seite der Unterdrückten, der Verfolgten,
der Marginalisierten und der Ausgegrenzten in ihrem Leid, ihrem Ringen und ihrer Hoffnung
zu stellen. Die Begleitung der Entwurzelten und die Fürsprache für sie
verkörpern die Grundsätze des prophetischen Zeugnisses und Dienstes -
Diakonie.
Wir können die "Bedürftigen" nicht im Stich lassen oder dem Erbarmen Grenzen
setzen (Hebr. 13, 2; Lukas 10, 25-37, Römer 12, 13).
Das Volk Gottes wurde sesshaft, um seinen Auftrag, seinen Dienst und die Verheissung
Gottes zu erfüllen, und doch sind die Glaubenswege entwurzelter Menschen ein Erbe
der gesamten Kirche. Ebenso wie die alttestamentarischen Exilberichte durch die ganze
Geschichte der Kirche hindurch ein Ausdruck unseres Verständnisses von der Liebe
Gottes gewesen sind, so muss die Kirche auch heute das Wort Gottes aus dem Zeugnis
entwurzelter Menschen empfangen.
In der Verkündigung der Botschaft der Hoffnung für alle Menschen und in der
Erinnerung an die Gemeinschaft in Jesus Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung
erleben die Kirchen ihre Berufung als lebensfähige und integrative Gemeinschaften; sie
begleiten die Menschen, teilen deren Hoffnungen und Leiden und bieten ihnen Raum.
Unsere christlichen Überzeugungen zwingen uns zu einer Erneuerung des kirchlichen
Handelns zum Schutze des Lebens und der Würde, zur Arbeit für Frieden und
Gerechtigkeit und zur Schaffung einer Gemeinschaft mit den Entwurzelten.
WIR FORDERN CHRISTEN UND KIRCHEN ZUM HANDELN AUF
Das Handeln beginnt mit einer selbstkritischen Prüfung der Erfolge und des Versagens
und einem erneuten Eingehen der Kirchen auf entwurzelte Menschen und die Ursachen ihrer
Vertreibung. Erneuerung setzt voraus, dass die theologische und biblische Reflexion
über die Ursachen der Vertreibung und die Bedürfnisse der Entwurzelten in den
Mittelpunkt des kirchlichen Lebens gestellt werden. Die Frage der entwurzelten Menschen
muß in die Entscheidungsinstanzen und in die mittelvergebenden Gremien
hineingetragen werden. Kirchliche Gremien und Programme, die sich mit diesen Anliegen
befassen, müssen eingerichtet oder ausgebaut werden.
Die Aufgabe ist ökumenisch und global. Die Kirchen müssen untereinander und in
Partnerschaft mit andern Bereichen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Viele
verschiedene Organisationen setzen sich sehr engagiert für entwurzelte Menschen ein;
kein Bereich kann auf sich allein gestellt die systembedingten Ursachen der Entwurzelung
abbauen.
Nach praktischen Wegen zur Bekämpfung der Ursachen und Folgen der Entwurzelung
zu suchen bedeutet auch, sich auf Gespräche mit Regierungen einzulassen. Das
erfordert von den Kirchen eine Prüfung der Möglichkeiten, ihre
Überzeugungen nicht zu verraten und gleichzeitig Kompromisse auszuhandeln, die zur
politischen Auseinandersetzung auf Landes- und internationaler Ebene gehören.
Wir fordern uns selbst, die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates und
ökumenische Organisationen auf, sich an Kampagnen zum Schutz des Lebens und der
Menschenwürde zu beteiligen, sich für Gerechtigkeit und Frieden in unserer Welt
einzusetzen und entwurzelte Menschen zu begleiten.
Die Aktionen, die Christen und Kirchen durchführen können, werden
entsprechend der verschiedenen nationalen und regionalen Situationen und je nach den
Möglichkeiten der Kirchen unterschiedlich ausfallen. Wir bitten die Kirchen darum,
einander zu unterstützen und zusammenzuarbeiten.
1. SCHUTZ DES LEBENS UND DER MENSCHENWÜRDE
ENTWURZELTER MENSCHEN
Wir fordern die Mitgliedskirchen auf, alle entwurzelten Menschen - Flüchtlinge,
Vertriebene im eigenen Land und Migranten - zu schützen und sich dafür
einzusetzen, dass sie geachtet werden.
A. Schutz des Lebens und der Sicherheit
B. Durchsetzung von Rechten und Menschenrechten
C. Förderung internationaler Normen
2. EINSATZ FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN
Wir rufen die Kirchen dazu auf, sich mit den Ursachen der Vertreibung zu befassen.
A. Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
ökologischen Gründe der Entwurzelung
B. Umfassendes Engagement für Friedensstiftung und
Konfliktlösung
C. Streben nach wirtschaftlicher und sozialer Fülle des
Lebens
D. Förderung des Rechtes der Menschen, sicher und in
Würde in ihrem Heimatland zu leben
3. GEMEINSCHAFT MIT DEN ENTWURZELTEN SCHAFFEN
Wir appellieren an die Kirchen, entwurzelten Menschen mit diakonischen Diensten,
Unterstützung und Solidarität ohne Unterschied zur Seite zu stehen.
A. Entwurzelten Menschen beistehen bei der Entscheidung zu
bleiben,das Land zu verlassen oder heimzukehren
B. Dienste anbieten, die materielle, soziale und seelische
Bedürfnisse befriedigen
C. Initiativen entwurzelter Menschen unterstützen
D. Zusammen mit entwurzelten Christen die Kirche sein
E. Leben in Vielfalt
F. Wiederherstellung der öffentlichen Solidarität
ZEICHEN DER HOFFNUNG
Auch heute, wo sich viele unserer Gesellschaften von den Fremden in ihrer Mitte abwenden
oder diese ignorieren, entscheiden sich Christen und Kirchen dafür, sich auf die Seite
der entwurzelten Menschen zu stellen. Einige Kirchen idendifizierten sich seit Jahrhunderten
mit Fremden und Exilierten.
Es ist ein Zeichen der Hoffnung, wenn in Gemeinden und Kirchen der ganzen Welt neue
Dienste, neue Träger ökumenischer Zusammenarbeit und neue Aktivitäten
entstehen, deren Ziel der Schutz der Menschenwürde und die Schaffung einer
bestandfähigen Gemeinschaft ist:
Wir bekräftigen, daß der Platz der Kirche an der Seite der Entwurzelten ist. Wir
rufen die Mitgliedskirchen auf, durch Zeugnis und Dienst auf allen Ebenen des kirchlichen
Lebens ihre Identität als Kirche des Fremden neu zu entdecken...
Mit der weltweit zunehmenden Anzahl entwurzelter Menschen nimmt auch
die Bereitschaft, ihnen Schutz zu gewähren, rapide ab. Regierungen in allen Regionen,
an der Spitze diejenigen des industrialisierten Nordens, führen restriktive
Einwanderungsbestimmungen und drakonische "Abschreckungsmaßnahmen" ein, um die
Einreise von Asylsuchenden und Migranten zu verhindern. Dies führt dazu, daß
Menschen, deren Leben und Menschenrechte geschützt werden müßten,
regierungsamtlich ausgeschlossen und gebrandmarkt werden.
Eine der dramatischsten Folgen der Vertreibung ist für die aus ihrer
Gemeinschaft herausgerissenen Menschen der Verlust ihrer Menschenwürde,
unabhängig von Klassenzugehörigkeit oder Geschlecht. Dieser Verlust an
Würde wird oft durch paternalistisches Verhalten seitens derjenigen, die versuchen zu
helfen, auf die Spitze getrieben.
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