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22. November 1999

ÖRK-GENERALSEKRETÄR FORDERT KRITISCHE
AUFARBEITUNG DER ZEIT DES KALTEN KRIEGES

Tschechische Dissidenten beklagen fehlende Unterstützung
während des kommunistischen Regimes

vgl. ÖRK-Pressemitteilung vom 16. November 1999


Der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Konrad Raiser, hat sich für eine grundlegende kritische Vergangenheitsaufarbeitung der Zeit des Kalten Krieges ausgesprochen. "Weichenstellungen" in der Entwicklung des ÖRK müssten auf der Grundlage nüchterner geschichtlicher Analysen neu interpretiert werden, erklärte er am Wochenende bei einem Gespräch mit früheren tschechischen Dissidenten in Prag. Diese warfen dem ÖRK vor, zur Verletzung der Menschenrechte in der damaligen Tschechoslowakei geschwiegen zu haben.

Statt die Menschenrechtsverletzungen im Kommunismus genau so wie die Apartheid in Südafrika klar zu verurteilen, habe der ÖRK versucht, mit den Ostblock-Staaten einen Konsens zu schaffen, beklagte der evangelische Pfarrer Alfred Kocab, der zu den Unterzeichnern der "Charta 77" gehört. Es habe kein Signal gegeben, dass der ÖRK die Position der Dissidenten verstehe. Künftig sollte sich die Institution zu ähnlichen kontroversen Fragen ein differenzierteres Urteil bilden und den Dialog mit allen beteiligten Konfliktparteien suchen, forderte Kocab.

Petitionen und Informationen über politisch verfolgte Pfarrer seien auf taube Ohren gestossen, fügte der Bürgerrechtler Jan Dus hinzu. Vielmehr sei nur den offiziellen Verlautbarungen der Kirchenleitung Aufmerksamkeit geschenkt worden. Damit habe der ÖRK jedoch in den Augen der Bürgerrechtler versagt. Für Gemeindepfarrer, die dem staatlichen Druck ausgesetzt waren, sei der ÖRK mit seiner loyalen Haltung eine zusätzliche Belastung gewesen, kritisierte auch der Pfarrer Pavel Hlavac. Die Ansichten der Dissidenten und des ÖRK hätten sich grundsätzlich unterschieden.

Der ÖRK habe diese Lektion inzwischen gelernt, erklärte Raiser. Er wolle die kritischen Anfragen ernstnehmen, auch wenn er vielen Darstellungen von historischen Abläufen nicht zustimmen könne. Es handele sich zum Teil um grundsätzliche Differenzen in der Einschätzung und ethischen Beurteilung der Situation, wie auf bestimmte Herausforderungen hätte reagiert werden sollen. Das begonnene Gespräch, in das alle Stimmen miteinbezogen werden sollen, werde weitergeführt.

Einladung zum Forum 2000
Während seines Besuches in der Tschechischen Republik vom 17. bis 21. November war Raiser neben führenden Vertretern der ÖRK-Mitgliedskirchen sowie von theologischen Fakultäten auch mit dem Primas der tschechischen katholischen Kirche, Kardinal Miloslav Vlk, und Vertretern des Kulturministeriums zusammengekommen. In einem Gespräch lud Staatspräsident Václav Havel Raiser zur Teilnahme an der Konferenz Forum 2000 im kommenden Jahr in Prag ein.

Zudem besuchte der ÖRK-Generalsekretär die Gedenkstätte in dem tschechischen Dorf Lidice, das von der SS als Vergeltungsakt für das Attentat auf den damaligen stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, niedergebrannt worden war. Lidice sei heute ein Symbol des Versöhnungsprozesses. Menschen würden an diesem Ort immer wieder neu mit der Aufgabe konfrontiert, die Konflikte in der Welt mit friedlichen Mitteln und nicht mit Mitteln der Gewalt zu lösen, betonte Raiser.

Zur kirchlichen Situation in der Tschechischen Republik sagte der ÖRK-Generalsekretär, die Kirchen seien sich darüber im Klaren, dass sie sich in einer "Randsituation" befänden und ihr Land heute zu einem "Missionsgebiet" geworden sei. Er sei beeindruckt von der offensiven Suche nach neuen Formen, in der modernen Gesellschaft Kirche zu sein, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren sowie das Staat-Kirche-Verhältnis zu lösen. Dafür könne der ÖRK nicht einfach ein Modell empfehlen. Er wolle aber die tschechischen Kirchen mit Kirchen in ähnlicher Situation in Kontakt bringen, um sich über Erfahrungen auf diesem Gebiet auszutauschen.

Die Tschechische Republik gilt als eines der am stärksten säkularisierten Länder des ehemaligen Ostblocks. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist konfessionslos. Nach offiziellen Angaben gehören noch 40 Prozent der römisch-katholischen Kirche an. Die Mitglieder der nichtkatholischen Kirchen machen zusammen weniger als fünf Prozent der Bevölkerung aus. Pfarrer werden in der Tschechischen Republik immer noch vom Staat bezahlt. Die Frage der Rückgabe kirchlichen Eigentums, das von den Kommunisten verstaatlicht worden war, ist auch zehn Jahre nach der Wende noch nicht gelöst.

Positiv bewertete Raiser den Stand der ökumenischen Beziehungen in der Tschechischen Republik. Zwischen den Spitzenrepräsentanten der Kirchen gebe es eine offene Bereitschaft zum Gespräch. Zudem zeige sich ein grosses ökumenisches Engagement an der Basis. Es sei "ermutigend", dass mit Zustimmung und Unterstützung der verantwortliche Kirchenleiter an vielen Stellen Schritte unternommen würden, um die konfessionellen Trennungen zu überwinden. Diesen Prozess wolle der ÖRK "nach Kräften unterstützen und fördern", hob der ÖRK-Generalsekretär hervor.


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