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26. Oktober 1999

NEUE CHANCEN UND RISIKEN FÜR DIE
KUBANISCHEN KIRCHEN


Eine internationale ökumenische Delegation, die von Hurrikan Irene in Kubas Hauptstadt festgehalten wurde, konnte sich mit eigenen Augen von den organisatorischen Fähigkeiten des kubanischen Volkes überzeugen, das auf der ganzen Insel mobil machte, um denjenigen, die in Gefahr waren, zu helfen.

Obwohl vier Menschen starben und mehrere alte Gebäude im Zentrum Havannas einstürzten, sind Beobachter der Meinung, dass die von Irene angerichteten Schäden sehr viel größer gewesen wären, wenn Kuba nicht über einen sehr gut organisierten Zivilschutz verfügen würde.

"Wir haben disziplinierte Entschlossenheit erlebt, es gab keine Nervosität, die Menschen wussten genau, wie sie mit der durch den Hurrikan ausgelösten Krise umgehen sollten", sagte Pfr. Dr. Konrad Raiser, der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Raiser kam in Begleitung von ökumenischen Führungspersönlichkeiten aus der Region nach Havanna, der ersten Station seiner Reise in vier Länder Mittelamerikas und der Karibik. Die Gruppe, die ursprünglich am 14. Oktober aus Kuba abreisen sollte, musste ihren Abflug um einen Tag verschieben. Da der Hurrikan noch nicht ganz abgeklungen war, flog die Delegation weiter nach Süd-Mexiko und nicht, wie vorgesehen, nach Port-au-Prince in Haiti, wo Begegnungen mit Kirchenvertretern und führenden Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft geplant gewesen waren.

Praktische Solidarität
Der Generalsekretär des ÖRK berichtete, dass die grosse Solidarität auf Kuba den Inselbewohnern half, mit Hurrikan Irene fertig zu werden. *Mir ist aufgefallen, wie ehrlich und selbstverständlich Solidarität in Kuba ist*, sagte Raiser. "Die Kubaner haben gelernt, dass es sich nicht lohnt, nur die eigenen Interessen im Blick zu haben, sondern dass es letzten Endes allen besser geht, wenn man füreinander da ist und denen hilft, die in Not sind. Genau so sollte Solidarität funktionieren. Kuba ist es gelungen, das, was in traditionellen Gesellschaften von jeher Praxis war, in eine differenzierte moderne Gesellschaft zu integrieren, und das ist recht beeindruckend."

Während eines Besuchs in der Lateinamerikanischen Medizinischen Hochschule in Havanna am 13. Oktober lernte Raiser ein anderes Beispiel praktizierter Solidarität kennen. Diese Hochschule wurde gegründet, nachdem Hurrikan Mitch Mittelamerika verwüstet hatte, und bildet heute junge Ärzte und Ärztinnen aus, die aus Ländern wie Guatemala, Brasilien und Honduras kommen. *Die meisten der Studierenden kommen aus ländlichen Gebieten und hätten in ihrem Heimatland normalerweise nicht die Möglichkeit gehabt, Medizin zu studieren*, sagte Raiser. "Wenn sie für diese Ausbildung nach Havanna kommen, so verpflichten sie sich, am Ende der sechs Jahre in ihre ländlichen Gemeinschaften zurückzukehren und dort im selben Geist selbstlosen Dienstes zu arbeiten, den sie in Kuba kennen gelernt haben."

Die Hochschule wurde im letzten Januar eröffnet und ist in einem Gebäudekomplex untergebracht, der bis dahin der kubanischen Kriegsmarine gedient hatte. Im Februar wurde die letzte Bombe von dem Gelände abtransportiert.

Raiser wies darauf hin, dass diese Hochschule sehr viel gemeinsam habe mit den Programmen der gemeinschaftsbezogenen Gesundheitsversorgung, die der ÖRK in der ganzen Welt unterstützt. Er bekundete sein Interesse daran, Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen beiden Institutionen zu prüfen, um die Gesundheit armer Menschen, die von bestehenden Gesundheitsprogrammen ausgeschlossen sind, zu verbessern.

Der Besuch in der Hochschule fand gegen Ende der viertägigen Reise statt, in deren Verlauf die Gruppe Gespräche in Havanna und in der Nachbarprovinz Matanzas geführt hatte. In den ersten Tagen hatte Raiser mit Theologiestudenten diskutiert, in protestantischen Gottesdiensten gepredigt, mit dem katholischen Erzbischof von Havanna gesprochen und bis spät in die Nacht über einem Abendessen Gespräche mit Präsident Fidel Castro geführt.

Beeindruckendes Wachstum
Am 13. Oktober, als der Hurrikan sich Kuba bereits bedrohlich näherte, traf Raiser mit den Verantwortlichen von 33 protestantischen Denominationen zusammen, die ihn über das überwältigende Wachstum der Kirchengemeinden in den letzten Jahren informierten. Gemäß Pfr. Otoniel Bermudez, dem Pfarrer der unabhängigen Evangelischen New-Pines-Kirche und Generalsekretär des Kubanischen Rates der Kirchen, waren die Teilnehmenden "erstaunt, wie schnell Dr. Raiser die Komplexität der Lage in Kuba verstanden hat". Bermudez fügte hinzu, dass viele Kirchenführer, die an der Begegnung teilgenommen hätten, aus konservativen Kirchen kämen, die traditionell Misstrauen gegen überkonfessionelle Vereinigungen hegten, dass sie aber nach dem Gespräch mit dem Leiter des ÖRK "neues Vertrauen in die ökumenische Bewegung haben".

Alle anwesenden Kirchenführer berichteten, dass die Mitgliedszahlen ihrer Kirchen steil angestiegen seien. So wies Bermudez zum Beispiel darauf hin, dass seine Kirche gegenwärtig 22000 Mitglieder habe und damit in den letzten fünf Jahren um 50% gewachsen sei.

Während in Analysen davon ausgegangen wird, dass dieses schnelle Wachstum eine direkte Folge der Wirtschaftskrise ist, in die das Land Anfang dieses Jahrzehnts hineingestürzt wurde, als es seine bevorzugten Handelsbeziehungen mit der früheren Sowjetunion verlor, zeigte sich eine Regierungsvertreterin, die für religiöse Angelegenheiten zuständig ist, überzeugt davon, dass die Kirchen selbst mehr zu diesem Aufschwung beigetragen haben, als gemeinhin angenommen wird.

"Die Kirchen machen ihre Arbeit, und sie machen sie gut", sagte Maira Gutierrez, eine hochrangige Mitarbeiterin im Büro für religiöse Angelegenheiten des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei.

Mehrere Beobachter berichteten der Delegation, dass die organisatorischen Fähigkeiten der Kirchen zu Beginn dieses Jahres unter Beweis gestellt wurden, als eine ganze Million Kubaner an den verschiedensten Veranstaltungen der sog. Kubanischen Evangelischen Feiern teilnahm, einem ökumenischen Projekt, das sich über mehrere Monate erstreckte und sowohl "Haus-zuHaus- Evangelisation" als auch große Versammlungen in größeren Städten einschloss. Die Regierung sorgte für Live-Übertragungen von vier großen Versammlungen im Fernsehen und stellte öffentliche Transportmittel für die größte Feier bereit, die am 20. Juni auf dem Platz der Revolution in Havanna stattfand.

Die von den Kirchen organisierten Feiern waren fröhliche Versammlungen, die selten länger als zwei Stunden dauerten. Ein Regierungsminister soll Berichten zufolge eingeräumt haben, dass die Regierung viel von der Kirche lernen müsse, da staatliche Massenveranstalt"stundenlang mit langen Reden gefoltert werden".

Während die kirchliche Erneuerung auf der ganzen Insel sowohl auf die harte Arbeit von Kirchenführern als auch auf die Wirtschaftskrise dieses Jahrzehnts zurückzuführen ist, so ist doch auch klar, dass die Regierungsvertreter zu Anfang dieses Jahrzehnts begannen, sich selbst als Politiker und nicht als Polizisten in ihrem Verhältnis zu religiösen Gemeinschaften zu sehen. Wenn auch nicht alle Spannungen beseitigt sind, so ist die Haltung der Parteipolitiker heute doch sehr viel nuancierter als in der Vergangenheit und kann häufig sogar als kooperativ bezeichnet werden.

"Die Handlungsfreiheit der Kirchen ist gewachsen", bemerkte Raiser. "Das Problem in den 60er, 70er und 80er Jahren war nicht Initiavlosigkeit der Kirchenführer und Gemeindeglieder. Sie hatten einfach nicht das Recht, frei als Kirche zu funktionieren. Aber jetzt hat die Regierung ihre Politik geändert und erlaubt den Kirchen ein breites Spektrum an Aktivitäten, die vor 15 Jahren nicht möglich waren."

Die Risiken
Die Wiederbelebung der Religion in Kuba birgt bestimmte Risiken in sich. Ein kubanischer Religionswissenschaftler, Joel Suarez, äußerte die Sorge, dass die wirtschaftliche Not "Seifenchristen" produziere, Menschen, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten in die Kirche kämen, weil die Kirche materielle Güter "von Seife bis zu Medikamenten" bereitstelle, die auf dem kubanischen Markt nicht ohne weiteres zu erhalten seien. Ein solcher Paternalismus, so Suarez, werde die Fähigkeit der Kirchen schwächen, echte Hoffnung in unsicheren Zeiten zu verkünden. "Bieten wir billige Gnade an, ein Evangelium aus Zuckerwatte, oder lädt die Kirche zur Begegnung mit Jesus ein, einer Begegnung, die das Leben der Menschen schwieriger macht und von ihnen verlangt, dass sie das 'Salz' und das e'Licht' in ihrer Nachbarschaft werden?" fragte Suarez, der der baptistischen Kirche angehört.

Die Kirchenführer brachten auch zum Ausdruck, dass sie nicht in "Zahleneifer" verfallen wollten, wie einige die triumphalistische Haltung angesichts steigender Mitgliedszahlen nannten, da dies auf Kosten jeder kritischen Analyse der Lehrinhalte gehe, die die Kirche ihren neuen Mitgliedern vermittle.

Raiser, ein deutscher Theologieprofessor, verglich die Entwicklung in Kuba mit den Erfahrungen, die er in den ehemals sozialistischen Ländern Europas gemacht hatte. *Wenn das bis dahin stark betonte ideologische Fundament einer Gesellscha"t geschwächt oder ausgehöhlt wird, kann man beobachten, dass die Menschen generell bereit sind, ihren ideologisch untermauerten geistigen Bezugsrahmen gegen einen ideologischen einzutauschen", sagte Raiser. Die Gefahr sei, so argumentierte er, dass die Menschen schnell von ihrem neuen religiösen Leben enttäuscht sein könnten, wenn die Kirche nicht für eine solide christliche Unterweisung sorge, welche die Glaubenserfahrung und das gesellschaftliche Engagement der neuen Mitglieder vertiefe.

Raiser zeigte sich in vielen Fällen beeindruckt von "dem sehr klaren und intuitiven Ansatz der kubanischen Kirche bei der Entwicklung neuer Unterrichtsmaterialien und Aktivitäten, die den Menschen eine neue Vorstellung davon vermitteln, was es bedeutet, eine christliche Gemeinschaft zu sein". Er nannte als Beispiele die Ausarbeitung neuer Lehrpläne an der ökumenischen Hochschule in Matanzas, ein kirchliches Programm zur Ausbildung von Laien für kirchliche Leitungsfunktionen in Havanna und ein kirchlich gefördertes Volksbildungsprogramm, das sowohl von der Kirche als auch von einigen im Gesundheitswesen tätigen staatlichen Einrichtungen benutzt wird. Raiser hob hervor, dass die Bildungsarbeit der Kirchen "in gewisser Weise ein Kampf um den menschlichen Geist ist". Die Regierung, so stellte er fest, wolle diesen ideologischen Kampf nicht anderen überlassen, habe jedoch neuen Respekt für die Fähigkeit der Kirche entwickelt, Menschen zusammenzubringen und das kritische Bewusstsein unter ihren Mitgliedern zu stärken.

"Die kubanischen Kirchen können auf einer soliden Grundlage evangelischer Frömmigkeit aufbauen und sind im Leben der Menschen verwurzelt geblieben", beobachtete Raiser. "Die Kirchen betrachten sich selbst als integralen Bestandteil der kubanischen Gesellschaft und Kultur. Sie werden nicht mehr als fremdes Projekt angesehen, sondern engagieren sich vielmehr dafür, in den kommenden Jahren einen konstruktiven Beitrag zum Prozess des Wandels zu leisten."

Während seines Besuchs in Kuba wurde Raiser begleitet von Dr. Walter Altmann, dem Präsidenten des Lateinamerikanischen Rates der Kirchen, Pfr. Carlos Emilio Ham, einem der Präsidenten der Karibischen Konferenz der Kirchen, seiner Frau Dr. Elisabeth Raiser, die sich für Frauenanliegen engagiert, Geneviève Jacques, einem Mitglied des ÖRK-Teams für internationale Beziehungen, und Marta Palma vom ÖRK-Team für regionale Beziehungen und ökumenisches Miteinanderteilen.

Kontaktperson: ÖRK-Büro für Beziehungen zu den Medien, Tel. +41 22 791 6153


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