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15. April 1999

GESCHOCKT UND VERSTÖRT
von Nils Carstensen, Kukes, Albanien


Enver Sllamniku lehnt an dem kleinen roten Traktor, mit dem er gerade aus dem Kosovo nach Albanien gekommen ist. "Serbische Soldaten... bumm, bumm, bumm," sagt er und ahmt automatische Schnellfeuergewehre nach. Sllamniku ist Anfang 50 und trägt einen Bart. Seine Tochter lacht über seine Gesten, hört dann unvermittelt auf, blickt um sich und setzt sich neben den kleinen Holzanhänger, der ihre gesamte Habe enthält: einige Matratzen und Decken, Kleiderbündel, ein paar schäbige Koffer und Sporttaschen. Obenauf schlafen ihre Grossmutter und ihr fünfjähriger Bruder.

Zusammen mit 1500 anderen sind sie in der Nacht in Albanien angekommen und haben am Rande der Gebirgsstadt Kukes im Nordosten des Landes angehalten. Auf einem Feld am Fuss der schneebedeckten Berge stehen inmitten von Abfällen Hunderte von Treckern, Anhängern und Kleinwagen. Die Menschen sitzen in kleinen Gruppen beieinander oder kauern auf ihrer armseligen Habe. Es wird nicht viel gesprochen, und die meisten scheinen den Blick nach innen gerichtet zu haben. Journalisten, Fotografen und Fernsehteams halten nach Personen Ausschau, die sie interviewen können. Einige hundert Meter links von dem Feld stehen die Überreste einer verfallenen Industrieanlage, die die Szene noch trostloser erscheinen lässt.

Die Gruppe von Flüchtlinge kommt aus Vragoli, einem kleinen Dorf in der Nähe von Pristina. Avdyl Orllati war dort Lehrer. "Die serbischen Soldaten sind gestern morgen gekommen. Sie haben uns bedroht und haben in die Luft geschossen. Dann haben sie uns befohlen, das Dorf sofort zu verlassen", berichtet er. "Zuerst haben sie gesagt, wir sollten zu Fuss gehen. Dann haben sie ihre Meinung geändert und uns gesagt, wir sollten unsere Traktoren und Autos nehmen. Wir hatten eine halbe Stunde Zeit. ‘Geht nach Albanien,' haben sie uns gesagt, ‘da gehört ihr hin. Der Kosovo ist für die Serben. Geht zur NATO, die kümmert sich um euch.' Bevor wir abfuhren, haben sie uns unsere Ausweise und Nummernschilder weggenommen. Einigen haben sie auch das Geld weggenommen, aber nicht allen."

Auf der 14stündigen Fahrt bis zur Grenze hat Orllati ein zerstörtes Dorf nach dem anderen gesehen. Im Gegensatz zu einigen der Flüchtlinge, die vor ein paar Tagen hier angekommen sind, ist niemand aus dieser Gruppe geschlagen oder verletzt worden. Auch hat niemand mitansehen müssen, dass Verwandte erschossen wurden, bevor sie aus dem Kosovo herauskamen. Orllati ist mit seiner Frau, seinen beiden Söhnen und drei weiteren Verwandten gekommen. Für's erste weiss er nicht, wie es weitergeht.

Die enge, gewundene Bergstrasse voller Schlaglöcher, die nach Kukes führt, hat noch nie einen solchen Verkehr erlebt. Lastwagen mit Hilfsgütern kriechen von Tirana herauf - eine Fahrt von gut acht Stunden. In die umgekehrte Richtung bewegt sich eine nicht abreissende Kolonne von Treckern, Autos aus dem Kosovo ohne Nummernschilder, von Bussen und albanischen Armeelastwagen. Sie alle bringen Flüchtlinge nach Tirana und in andere Teile Mittel- und Südalbaniens.

AHier sind jetzt nur noch rund 70.000 Flüchtlinge@, erklärt Jacques Franquin vom Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) in Kukes. Die meisten der 310.000 Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen nach Albanien gekommen sind, sind über Kukes eingereist. Franquin weist darauf hin, dass sich die allgemeine Lage im Vergleich zu den Bedingungen von noch vor ein paar Tagen, als das Lager hoffnungslos überfüllt war, verbessert hat. "Die albanischen Behörden habe ihr Bestes getan, um die Flüchtlinge hier herauszuholen," fügt er hinzu. Die Mehrzahl der 70.000 Flüchtlinge in Kukes sind entweder Neuankömmlinge oder solche, die für den Augenblick lieber nahe an der Grenze bleiben wollen. Die anderen sind entweder in albanischen Gastfamilien oder in Transitlagern untergebracht. Einige sind in die Flüchtlingslager gegangen, die jetzt überall in den verhältnismässig wohlhabenderen Regionen Albaniens nahe der Mittelmeerküste aus dem Boden schiessen.

In der vergangenen Woche hat "Kirchen helfen gemeinsam" (ACT) Zelte und Decken für 900 Familien nach Kukes eingeflogen. Die Arbeiten für ein erstes Lager für 2000 Flüchtlinge fangen morgen an. Über 60 Tonnen Lebensmittel sind in der ersten Phase der Nothilfe verteilt worden. Weitere 20 Tonnen Lebensmittel und Hygieneartikel werden in den kommenden Tagen verteilt. ACT plant auch, Tausende von Flüchtlingen und Gastfamilien in ganz Albanien zu unterstützen. Der albanische Partner von ACT - Diaconia Agapes, der diakonische Flügel der Albanischen Orthodoxen Kirche - beteiligt sich aktiv an dieser Arbeit und stellt Pläne für die nächsten Wochen und Monate auf.

Wie die anderen humanitären Organisationen, die den Flüchtlingen aus dem Kosovo zu Hilfe eilen, weiss auch ACT nicht, wie es jetzt weitergeht. Stellen Familien wie die von Orllati und Sllamniku das Ende des Exodus dar, der Ende März begann? Oder stehen sie nur am Anfang einer weiteren massiven Flüchtlingswelle? Und wieviel mehr Flüchtlinge kann Albanien aufnehmen - das auch ohne die Flüchtlinge Jahrzehnte brauchen wird, um sich von dem früheren Regime zu erholen?p> Die Stimmung unter humanitären Mitarbeitern und Journalisten in Kukes ist nicht weniger düster als die der neuangekommenen Flüchtlinge. Die Erinnerungen an die "Hölle auf Erden", die vergangene Woche an der Grenze herrschte, sind noch zu frisch. Immer wieder sieht man, wie die Flüchtlinge ihre Fäuste gegen Slobodan Milosevic erheben oder ihn verfluchen, wenn sie um Lebensmittel anstehen oder in langen Schlangen vor der öffentlichen Telefonzelle warten in der Hoffnung, Kontakt mit ihren verlorenen Verwandten aufzunehmen. Auf dem Feld bei Kukes ist Sllamnikus Tochter nicht die einzige, die geschockt und verstört ist. Die Menschen in Kukes sind gezeichnet von der Tragödie, die sich abspielt.

Weitere Informationen erhalten Sie von Nils Carstensen über act@act-intl.org. Die Internetadresse von ACT ist: http://www.act-intl.org.

[Der Verfasser dieses Beitrags, Nils Carstensen, ist der Kommunikationsreferent von ACT. ACT ist ein weltweites Netz von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen zur Linderung menschlicher Not durch koordinierte Not- und Katastrophenhilfe. Das Koordinierungsbüro von ACT befindet sich am Sitz des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Genf/Schweiz.)]

Das beigefügte Foto von Peter Williams sowie eine Auswahl von Fotos aus Albanien sind bei Photo Oikoumene erhältlich. Sie können Fotos direkt im elektronischen Format (300 dpi) über die Website Photo Oikoumene beziehen.


Weitere Informationen erhalten Sie von Karin Achtelstetter, ÖRK-Medienbeauftragte
Tel. (Büro): (+41 22) 791 6153
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