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21. September 2001 Flüchtlingsfrauen erzählen

Mary ist eine Witwe mit sieben Kindern, aber sie weiss nicht, wo zwei ihrer Kinder sind. Sie ist eine Flüchtlingsfrau aus Sierra Leone - ein Opfer der in diesem Land herrschenden brutalen Gewalt. "1998 flüchteten wir aus Bo, der Stadt, in der wir gelebt haben", erzählt Mary. Eine Gruppe von Rebellen griff uns an und ermordete meinen Mann. Sie befahlen mir, alle meine Kleider auszuziehen und mich auf den Boden zu legen. Ich war sicher, dass sie mich auch töten würden. Aber einer der Rebellen war ein Junge aus meinem Dorf. Er sagte den anderen, sie sollten mich in Ruhe lassen. Später fand mich mein Sohn. Wie so viele der Flüchtlinge hatte er alle seine Kleider übereinander angezogen und konnte mir so etwas zum Anziehen geben. Wir flohen nach Guinea, wo wir in einem Flüchtlingslager unterkamen."

Auf Einladung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) ist Mary aus Sierra Leone zusammen mit 45 anderen Flüchtlingsfrauen anlässlich des ersten Weltflüchtlingstags am 20. Juni nach Genf gekommen. Es ist das erste Mal, dass Flüchtlingsfrauen - aus Lagern, aus städtischen Gebieten sowie Binnenvertriebene - auf internationaler Ebene zusammenkommen , um Erfahrungen auszutauschen und dem UNHCR Anstösse für sein zukünftigesVorgehen zu geben. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ist eine von nur drei internationalen Nichtregierungsorganisationen (NROs) (zusammen mit der Women's Commission on Refugee Women and Children und den Christlichen Verbänden Junger Frauen - CVJF), die zur Teilnahme an dieser Tagung eingeladen worden sind.

Die Flüchtlingsfrauen sind stark und leidenschaftlich. Sie ergreifen die Gelegenheit, um zu berichten, was in den Flüchtlingslagern in aller Welt wirklich geschieht. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen, die gelegentlich an anderen Tagungen teilnehmen, sind die meisten dieser Frauen nie aus ihrem Land herausgekommen... ausser um über die Grenze zu fliehen.

Verdolmetschung gibt es während der Konferenz offiziell in vier Sprachen; daneben wird jedoch informell in und aus mehreren anderen Sprachen gedolmetscht, damit die Frauen miteinander ins Gespräch kommen können.

Es ist eine Begegnung, die sehr intensiv und mitreissend ist. Frauen aus Afghanistan, Tschetschenien, Burundi, Kolumbien und vielen anderen Ländern erzählen ihre Lebensgeschichte. Viele, wie auch Mary, berichten von Schmerz und Leid.

"Ich habe alles verloren, alles, als ich von zu Hause weggehen musste, - meinen Mann, unser Geschäft, unser Haus, alles", klagt Mary. "Dann, am 9. September, sagte der Präsident von Guinea seinem Volk, es solle die Flüchtlinge aus dem Land vertreiben, und daraufhin begannen die Angriffe gegen uns. Flüchtlinge in den Städten wurden zusammengetrieben, geschlagen und getötet. Die Menschen griffen die Flüchtlingslager an. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schrecklich das alles war. Wir lebten in ständiger Angst.

Vor einigen Monaten hat das UNHCR uns alle in ein anderes, neues Flüchtli ngslager weiter weg von der Grenze umgesiedelt. Die meisten Flüchtlinge mussten zusammen mit anderen Familien in Hütten leben. Aber ich wollte meine Familie zusammenhalten. Wenn Kinder mit vielen anderen Leuten zusammen sind, können sie schlechte Dinge lernen.

Normalerweise ist es der Mann, der die Hütte baut, aber meine Kinder und ich arbeiteten sehr hart, um Ziegel zu brennen und unsere winzige Hütte zu bauen. Sie ist sehr klein und wir haben nur eine Matte. Der Lehmboden ist unhygienisch und die Menschen werden krank. Wir haben nur eine Decke, deshalb decken meine Kinder sich nachts mit einem meiner Kleider zu. Ich weiss nicht, wo zwei meiner Kinder sind: mein 21-jähriger Sohn und meine 16-jährige Tochter. Ich weiss nicht, wo sie sind, vielleicht in einem anderen Lager, vielleicht in Sierra Leone. Es macht mich so traurig. Nachts kann ich nicht schlafen, weil ich mir Sorgen um sie mache...

Unser grösstes Problem ist momentan der Hunger. Wir bekommen 13,5 Kilo Bulgur-Weizen. Damit sollen wir 45 Tage auskommen, aber manchmal warten wir 55 bis 60 Tage auf die neuen Lieferungen. Alle leiden Hunger. Man muss stark sein, um sein Essen zu bekommen. Wenn man nicht stark ist, nehmen die Männer und Jungen es einem weg. In dem anderen Lager haben wir etwas Gemüse angebaut, aber in diesem neuen Lager wird es eine Zeit lang dauern, bis etwas wächst. Ich wünschte, wir würden Reis bekommen. Die Frauen prostituieren sich, wenn sie ihre Kinder nicht mehr ernähren können, und wenn ihre Männer es herausfinden, schlagen sie sie. Es würde viel besser funktionieren, wenn die Frauen die Lebenmittelkarten bekämen. Normalerweise werden sie dem Familienoberhaupt, also dem Mann, gegeben. Aber die Männer tauschen die Nahrungsmittel manchmal gegen Zigaretten oder Alkohol ein. Dann sieht es für die Familien wirklich schlecht aus", erklärt Mary.

Andere Frauen erzählen ähnliche Geschichten von Flucht, Tod, Verfolgung , getrennten Familien und zerstörten Zukunftsperspektiven. Aber es gibt auch Geschichten der Hoffnung. "In Afghanistan", berichtet eine Flüchtlin gsfrau, "gibt es keine Ausbildungseinrichtungen für Lehrerinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern. Da afghanische Frauen sich nicht von männlichen Ärzten oder Lehrern behandeln bzw. ausbilden lassen dürfen, werden Frauen und Mädchen in einigen Jahren keinen Zugang mehr zu Gesundheitsversorgung und Ausbildung haben. In den Flüchtlingslagern bilden wir hingegen afghanische Flüchtlingsfrauen aus. Diese Frauen sind die Hoffnung Afghanistans. Wir sind die Zukunft unseres Landes."

Pionierarbeit
Der ÖRK ist zur Teilnahme an dieser UNHCR-Tagung eingeladen worden, weil er eine führende Rolle dabei gespielt hat, die Anliegen von Flüchtlings frauen auf die internationale Tagesordnung zu setzen. 1988 hat der ÖRK zusammen mit den CVJF und anderen NROs eine erste Konsultation über die Anliegen von Flüchtlingsfrauen organisiert. An dieser Tagung, die wirkliche Pionierarbeit leistete, nahmen 150 Personen aus 40 Ländern teil, von denen 35 Prozent selbst Flüchtlingsfrauen waren. Viele der von dieser Konferenz angenommenen Empfehlungen sind in der Zwischenzeit umgesetzt worden. Das UNHCR hat seither entsprechende Grundsatzentscheidung en getroffen, Richtlinien ausgearbeitet, Informationsmaterial entwickelt sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für die Behandlung von Geschlechte rfragen eingestellt.

"Vor 15 Jahren", erklärt Elizabeth Ferris vom ÖRK-Team für internatio nale Beziehungen, "wollte niemand etwas über die Probleme von Flüchtlin gsfrauen hören. UNHCR-Mitarbeitende und Regierungen guckten uns an, als wären wir verrückt, wenn wir sagten, dass Flüchtlingsfrauen besondere Bedürfnisse und Fähigkeiten hätten, die zur Kenntnis genommen werden müssten. Seither ist sehr viel erreicht worden. So haben die Regierungen, zum Beispeil, eingesehen, dass weibliche Asylsuchende mit weiblichen Behördenmitarbeitern sprechen müssen, wenn sie berichten, wie sie sexuell missbraucht worden sind. Hilfsprogramme wenden sich mit einkommenschaffenden Projekten speziell an Frauen und Geschlechterfragen spielen in vielen Organisationen mittlerweile eine wichtige Rolle. Aber solange Frauen noch vergewaltigt werden, wenn sie Feuerholz suchen gehen, und solange Familien Hunger leiden müssen, weil der Mann mit der Lebensmittelkarte lieber Zigaretten besorgt, bleibt noch viel zu tun."

Die Erfahrungsberichte, die wir auf der Tagung im Juni 2001 in Genf gehört haben, machen deutlich, dass noch viel getan werden muss. Frauen sind auch weiterhin physischer Gewalt ausgesetzt - auf der Flucht, in Flüchtlingslagern und in ihrer Familie. "Manchmal wissen unsere Männer in den Lagern nicht, was sie den ganzen Tag tun sollen", erzählt eine Frau aus Burundi. "Sie sind es gewohnt gewesen, ihre Familien zu ernähren und zu schützen; deshalb fühlen sie sich jetzt nutzlos. Diese Veränderungen in der Rolle von Mann und Frau führen oft zu Gewalt in der Familie." Eine andere Frau erklärt, dass die Frauen im Dadaab-Lager in Kenia stundenlang unterwegs sind, um Feuerholz zu sammeln, und dass sie dabei oft überfallen oder vergewaltigt werden. "Wir könnten Feuerholz kaufen, wenn wir Geld hätten", sagt sie. "Wir könnten auch kleine Betriebe aufbauen, um Geld zu verdienen, aber wir haben nichts - kein Geld -, um auch nur den Versuch zu machen."

Während einer Diskussion mit dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Ruud Lubbers, bringt eine 17-jährige Flüchtlingsfr au aus Äthiopien die Sorgen vieler Flüchtlinge zum Ausdruck, als sie ihm sagt, dass dringend Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden müssten. "Unsere Kinder brauchen Schulen", insistiert sie. "Wir wollen eine einfache, klare Antwort von Ihnen. Wir wollen, dass Sie ja sagen - ja, dass Sie Schulen für Flüchtlinge einrichten werden." In seiner Antwort greift der Hohe Kommissar zum Mikrophon und sagt einfach:"Ja, ich werde das tun. Ja."

Haushaltskürzungen
Aber viele UNHCR-Programme sind durch eine neue Runde von Haushaltskürzun gen gefährdet.

"Unsere Lebensmittelrationen sind gekürzt worden", seufzt eine Flüchtli ngsfrau aus Tansania. "Genau wie unsere", antwortet eine afghanische Frau, die nach Pakistan geflohen ist. "Unsere auch"..."Unsere auch". Die Auswirkungen der Haushaltskürzungen im UNHCR werden in den Geschichten der Flüchtlingsfrauen aus aller Welt deutlich.

Wenn Lebensmittelrationen gekürzt werden, leiden die Menschen Hunger. Wenn Kinder nichts zu essen haben, entschliessen sich die Mütter zur Prostitution. Hier gibt es eine klare, eindeutige, direkte Wechselbeziehung . Wenn kein Geld da ist, um Feuerholz zu kaufen, dann legen die Frauen immer längere Strecken zurück, um welches zu suchen. Oft werden sie dabei überfallen oder vergewaltigt. "Früher gab es immer Seife", sagt eine Frau, "aber jetzt ist das vorbei". "Wir hatten gehofft, Schulen zu bekommen", sagt eine andere, "aber das UNHCR hat kein Geld, um die Lehrer zu bezahlen." Es werden viele solcher Geschichten erzählt.

In den Fluren des UNHCR wird darüber diskutiert, welche Programme von den Haushaltskürzungen betroffen sein werden, wie Abteilung X darum kämpft, dass ihre Programme weniger stark zusammengestrichen werden. "Ursprünglich wollten sie den Haushalt meiner Abteilung um 40% kürzen", lächelt ein Mitarbeiter, "aber es ist mir gelungen, diese Kürzungen auf 18% zu senken." Es wird berichtet, dass UNHCR-Stabsmitgliedern, die älter als 53 Jahre sind, grosszügige Vorruhestandsregelungen gewährt werden, um die Personalkosten zu begrenzen. Es ist traurig, wenn ein Mensch, der sein ganzes Leben lang für das UNHCR gearbeitet hat, gezwungenermassen mit 53 Jahren in Rente geht. Aber es ist sehr viel trauriger, wenn Flüchtlingsmütter mit ansehen müssen, wie ihre Kinder Hunger leiden.

"Mein Sohn ist 10 Jahre alt und alles, was er bisher kennen gelernt hat, ist Krieg", klagt eine Mutter aus Angola. "Was für eine Kindheit ist das, wenn Kämpfen und Weglaufen alles ist, was er kennt?" Die Frau lächelt ironisch und fügt hinzu:"Ich bin 35 Jahre alt und alles, was ich selbst in meinem ganzen Leben kennen gelernt habe, ist Krieg. Ich stamme aus Ovambo, aber ich bin wegen des Kriegs, zusammen mit vielen anderen Vertriebenen, nach Luanda gekommen. Alles ist hier vf döllig überlaufen. Fünf Menschen leben in einem Zimmer. Ich kümmere mich um meine Nichten und Neffen, wie wir es alle bei uns tun. Meine Mutter ist letzte Woche an Thrombose gestorben. Sie starb, weil es keine Medikamente gibt."

Wir hören immer neue Geschichten von Not, Leid und Schmerz. Angesichts dessen scheint es unglaublich, dass der Haushalt des UNHCR gekürzt wird, weil reiche Länder nicht zahlen wollen, weil sie es satt haben, den Opfern nicht enden wollender Kriege zu helfen. Aber sie können all den Krieg und all das Leid nicht mehr satt haben als die Frauen, die an dieser Tagung teilgenommen haben.


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