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23. Mai 2001

"Interreligiöser Dialog ist keine Ambulanz"
Eine Diskussion über religiöse Intoleranz, Konflikt und Friedensschaffung


Religionsfreiheit ist für den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und seine Mitgliedskirchen seit den Anfängen der modernen ökumenischen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert ein wichtiges Thema gewesen und Artikel 18 der Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte basiert auf der Erklärung zur Religionsfreiheit, die 1948 von der ersten ÖRK-Vollversammlung angenommen wurde.

Das ökumenische Denken über die Religionsfreiheit hat sich mit den konkreten Erfahrungen der ÖRK-Mitgliedskirchen in aller Welt, die in sehr unterschiedlichen Kontexten leben, allmählich weiterentwickelt. Im Laufe der Jahre ist den Kirchen bewusst geworden, dass Religionsfreiheit nicht von den anderen Aspekten der Menschenrechte getrennt werden kann und dass die Kirche keine Wahrung ihrer eigenen Rechte fordern kann, wenn sie sich nicht gleichzeitig für alle Rechte aller Menschen einsetzt.

Religionsfreiheit und religiöse Toleranz haben genauso viele Facetten wie die interreligiösen Aspekte von Konflikten und Konfliktlösungen. Daher sind von diesen Fragen mehrere Arbeitsbereiche im ÖRK betroffen. Wie soll der Rat auf diese Fragen eingehen? Gibt es neue Tendenzen und Herausforderungen für ihn?

Pfr. Dwain Epps vom Team für internationale Beziehungen, Dr. Tarek Mitri und Pfr. Dr. Hans Ucko vom Team für interreligiöse Beziehungen und Dialog diskutieren über dieses Thema mit Karin Achtelstetter, der Medienbeauftragten des ÖRK.

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Karin Achtelstetter: Der Ökumenische Rat der Kirchen legte der UN-Menschenrechtskommission anlässlich ihrer 57. Tagung eine schriftliche Stellungnahme zur Frage der religiösen Intoleranz vor. Damit wollte er die Kommission auf Faktoren aufmerksam machen, die - ihm vorliegenden Berichte zufolge - zu wachsender religiöser Intoleranz führen, etwa wie die ungerechte Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, die Verweigerung von politischem Mitspracherecht oder der Missbrauch von Religion als "Werkzeug und Katalysator der Eskalation" von Konflikten, um nur einige der zahlreichen Punkte zu nennen, die der ÖRK in seiner Stellungnahme aufgeführt hat. Haben Sie im Blick auf die Ergebnisse der 57. Tagung den Eindruck, dass die UN-Kommission nennenswerte Massnahmen ergriffen hat, um "die Religionsfreiheit, insbesondere für religiöse Minderheiten, zu schützen und zu stärken" und "Vertrauen sowie ein weltweites Klima der religiösen Toleranz, des Friedens und der Gewaltlosigkeit zu schaffen" - alles Ziele, die der ÖRK in seiner Stellungnahme hervorgehoben hat?

Dwain Epps: Wenn wir der Menschenrechtskommission dieses Anliegen in der von uns gewählten Form unterbreitet haben, dann deshalb, weil wir versuchen wollten, von Anfang an ein positiveres Klima in der Kommission zu schaffen, insbesondere im Hinblick auf die sehr kontroverse Frage der Rolle der Religion in aktuellen Konflikten. Wir waren uns der Tatsache bewusst, dass es auf dieser Tagung eine wachsende Tendenz geben würde, die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges wieder in feindliche Lager aufzuspalten, die dieses Mal, so das Argument, durch den Zusammenprall der Kulturen und in gewisser Weise durch den Zusammenprall der Religionen entstehen würden. Und wenn man anfängt, über die Rolle der Religion zu diskutieren, dominieren Gefühle häufig über den Verstand.

Nun, bei dieser Art von Fragen erwartet man keine schnellen Ergebnisse. Eine Resolution, die auf dieser Tagung der Menschenrechtskommission vorgelegt und angenommen wurde, befasste sich mit der Frage der religiösen Intoleranz und des Missbrauchs von Religion. Die Debatte, die darüber geführt wurde, war ziemlich kontrovers, und es gab ungefähr gleich viele Ja-Stimmen wie Nein-Stimmen und Stimmenthaltungen. Die Reaktionen auf unsere Stellungnahme zeigen jedoch, dass wir einen Beitrag zu mehr Sachlichkeit in der Diskussion geleistet haben. Viele der Betroffenen fühlten sich von unserer Erklärung direkt angesprochen. D. h. die Opfer selbst konnten sagen: "Nein, wir werden nicht notwendigerweise angegriffen, weil wir Christen sind, sondern weil es tief liegende politische, militärische, wirtschaftliche und andere Gründe gibt." Ich glaube, dass diese Stellungnahme zwar nicht die erste, aber eine der deutlichsten Erklärungen war, die der ÖRK in all den Jahren, die er sich bereits mit dem Thema der religiösen Intoleranz befasst, zu dieser Frage vorgelegt hat.

Tarek Mitri: Ich möchte dem, was Dwain gesagt hat, noch etwas hinzufügen. Viele Jahre lang haben nationale Organisationen und Regierungen die Rolle der Religion in Konflikten und Auseinandersetzungen unterschätzt. Gegenwärtig erleben wir das genaue Gegenteil: es besteht die Tendenz, die Rolle der Religion zu überschätzen. Häufig unterscheiden die Menschen nicht zwischen Verletzungen der Religionsfreiheit und Menschenrechtsverletzungen, auch dann nicht, wenn Religion kaum oder manchmal gar nicht im Spiel ist. Aber wie dem auch sei, wir müssen erkennen, dass Religionsfreiheit und Menschenrechte unteilbar sind, genau wie die Menschenrechte von Minderheiten und die Menschenrechte von Mehrheiten unteilbar sind. Die sozialen und politischen Rechte, die Minderheiten verweigert werden, werden häufig auch der Bevölkerungsmehrheit vorenthalten. Ferner ist es wichtig, dass das Eintreten für Religionsfreiheit und Menschenrechte nicht als Waffe benutzt bzw. empfunden wird, die eine Religionsgemeinschaft gegen eine andere richtet.

Dwain Epps: Die Tatsache, dass einige Berichte bereits vor der Tagung der Kommission im Umlauf waren und der Eindruck entstand, der ÖRK verurteile muslimische Angriffe gegen christliche Minderheiten pauschal, wie auch die Tatsache, dass der ÖRK sich mit Nachdruck für bedrohte Christen in aller Welt einsetzt, veranschaulichen das Problem, von dem Tarek eben gesprochen hat. Das, was der Rat in Wirklichkeit gesagt hat, wurde ziemlich verzerrt widergegeben. Aber all dies illustriert, in welchem Ausmass die Frage der Religion häufig überbewertet und bisweilen falsch dargestellt wird. Die Reaktionen, die bei uns eingegangen sind, zeigen, wie wichtig es ist, dass der ÖRK seine Anstrengungen zur Stärkung des Dialogs zwischen Gemeinschaften, Religionen und religiösen Gruppen fortsetzen und damit dazu beitragen kann, dass die Harmonie unter den betroffenen Völkern und ihre bürgerlichen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen Rechte wiederhergestellt werden können.

Karin Achtelstetter: Der ÖRK beschloss, seine schriftliche Stellungnahme zur religiösen Intoleranz unter Punkt 11 - der Frage der bürgerlichen und politischen Rechte - vorzulegen und nicht unter einem Punkt, der sich z. B. mit der Situation in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region befasste. Warum?

Dwain Epps: Diese Entscheidung wurde getroffen, weil der Bericht des Sonderberichterstatters über religiöse Intoleranz unter Punkt 11 vorgelegt wurde. Zweck unserer Stellungnahme war es, seine Arbeit zu unterstützen und zu stärken. Die Kommission befasste sich unter diesem Punkt mit der allgemeinen Frage des Einflusses der Religion auf die Gesellschaft bzw. der Auswirkungen von Menschenrechtsverletzungen auf Religion, Religionsfreiheit und religiöse Toleranz. Wir haben diese Frage auch ganz bewusst nicht in Zusammenhang mit Problemen in besonderen Ländern gebracht, weil wir wissen, dass einige Regierungen wie auch eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen die Tendenz haben, Fragen im Zusammenhang mit Religion bisweilen extrem kontrovers und gemeinschaftsspaltend zu behandeln. Der ÖRK befindet sich u.a. in Situationen, wo die Kirchen vor Ort - von denen einige in den vergangenen Jahren schwer unter Konflikten mit religiöser Komponente gelitten haben - eindringlich gebeten haben, ihre Regierung nicht zu verurteilen, sondern deren Anstrengungen zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung zu unterstützen und damit die Wiederherstellunng harmonischer Beziehungen zu ermöglichen.

Tarek Mitri: Lassen Sie mich noch etwas Wichtiges hinzufügen: In vielen Ländern des Südens reagieren Christen extrem empfindlich darauf, wenn sie - häufig zu Unrecht - als eine Art lokaler Zweig des weltweiten Christentums angesehen werden. Alles, was dieses Bild von Christen als Fremde in ihrem eigenen Land verstärkt, schadet ihnen. Als Ausdruck der Loyalität gegenüber ihrem Land bestehen Christen in vielen Ländern, wie z.B. in Ägypten, auf ihren sozialen, politischen und religiösen Rechten als Bürger ihres Landes. Sie fühlen sich unwohl, wenn sie als Minderheit bezeichnet werden. Ein weiteres Element ist die Einmischung von aussen. Wir leben auch heute noch in einer Welt der Nationalstaaten, in der nationale Souveränität nichts von ihrer Bedeutung verloren hat. Einmischung von aussen ist und bleibt im Völkerrecht wie in der internationalen Politik, ungeachtet der dafür angegebenen Gründe, ein sehr konfliktbeladenes Thema. Vielfach verschärft sie Spannungen und führt dazu, dass bestimmte Minderheiten in ein falsches Licht geraten und dass Feindseligkeit ihnen gegenüber entsteht bzw. neu belebt wird. Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem Einmischung von aussen bei Spannungen zwischen Gemeinschaften in einem Land die beste Lösung gewesen wäre, um die bestehenden Spannungen zu mildern oder zu beseitigen.

Karin Achtelstetter: Die dieses Jahr vorgelegte schriftliche Stellungnahme ist aus intensiven Kontakten mit ÖRK-Mitgliedskirchen hervorgegangen, die sich in Konfliktsituationen mit einer starken religiösen Komponente befinden. Beispiele dafür sind Sudan und Indonesien, in denen Konflikte zwischen Muslimen und Christen an der Tagesordnung sind. Finden die meisten religiösen Konflikte heute zwischen Muslimen und Christen statt oder gibt es auch Konflikte zwischen anderen Glaubensgemeinschaften?

Hans Ucko: Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich kurz etwas zum Problem von Interventionen sagen. Unser Problem liegt darin, dass wir gebeten werden, in einem gegebenen Konflikt etwas zu tun. Natürlich müssen wir vorsichtig sein, aber wenn wir uns zu sehr zurückhalten, wird uns u.U. vorgeworfen, dass wir nichts tun. Und das ist fatal für uns. Ich glaube deshalb, dass "seelsorgerliche" Interventionen bei den betroffenen Gemeinschaften das Beste sind. Dabei denke ich an sorgfältig geplante interreligiöse Teambesuche. Nach vielen Jahren des interreligiösen Dialogs haben wir ausgezeichnete Beziehungen zu Menschen anderer Religionen aufgebaut, mit denen wir zahlreiche Anliegen gemeinsam haben. Daher sollte es uns auch möglich sein, eine Gruppe von Christen und Muslimen, von Christen und Hindus oder von Christen und Juden einzuladen, die sich gemeinsam mit einem bestimmten Konfliktgebiet auseinandersetzen oder dieses gemeinsam besuchen. Dadurch könnten sie eine andere Möglichkeit des Zusammenlebens aufzeigen und so ein bescheidenes Zeugnis ablegen.

Ein Land, in dem es interreligiöse Spannungen zwischen anderen Glaubensgemeinschaften gibt, ist Indien. Dort nehmen die Auseinandersetzungen in der Frage der Bekehrung an Schärfe zu: die Hindus fordern die Wiederbekehrung der Christen zu ihrer so genannten ursprünglichen Religion und die Christen (nicht immer Inder) rufen dazu auf, das Kreuz auf indischem Boden zu errichten oder auch bis 2010 alle Hindus zum Christentum zu bekehren. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Religion sich koloniale und postkoloniale Strukturen zu Eigen macht.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Initiative des ÖRK-Jugendbüros aufmerksam machen: Junge Menschen verschiedener Religionen aus Konfliktgebieten in aller Welt - Israel, Palästina, Sri Lanka, Indonesien, Indien, Nigeria, Sudan - kommen in einem bestimmten Land zusammen und versuchen gemeinsam mit Angehörigen verschiedener Religionen, "Mappen" mit konkreten Vorschlägen für die Verwirklichung von Frieden und Versöhnung zwischen Glaubensgemeinschaften auszuarbeiten. Dies ist ein ausgezeichneter Versuch, sich aktiv mit interreligiösen Konflikten in einem gegebenen Gebiet oder Land auseinanderzusetzen.

Karin Achtelstetter: Sie haben gerade die Initiative des ÖRK-Jugendbüros erwähnt. Können Sie mir weitere konkrete Beispiele für interreligiösen Dialog nennen, der dazu beiträgt, eine Kultur der gegenseitigen Toleranz und Gewaltlosigkeit aufzubauen?

Hans Ucko: Wir dürfen nicht den Eindruck vermitteln, dass es Dialog im Schnellverfahren gibt. Inmitten eines Konflikts ist es nicht einfach, allein mit interreligiösem Dialog eine Kultur der gegenseitigen Toleranz und Gewaltlosigkeit aufzubauen. Dennoch gibt es Beispiele, z.B. Sierra Leone, wo es Menschen verschiedener religiöser Traditionen gelungen ist, den Frieden ein Stück voranzubringen, anstatt den Konflikt weiter anzuheizen. In Indien gibt es heute hindustische, christliche und muslimische Gemeinschaften, die kommunalpolitische Fragen nicht auf nationaler, sondern auf regionaler oder lokaler Ebene durch interreligiösen Dialog zu lösen versuchen. Und trotz allem, was wir gegenwärtig in Israel-Palästina miterleben, gibt es Palästinenser und Juden, die - wenn auch nur für gemeinsame Bibelarbeit oder im Rahmen verschiedener, z.T. sehr kleiner Organisationen - zusammenkommen, um wenigstens zu versuchen, Frieden als Option aufrechtzuerhalten und sich dabei gegenseitig zu unterstützen.

Tarek Mitri: Wenn Spannungen in einer Gemeinschaft entstehen oder eine Krise sich zuspitzt, sind Kontakte über bestehende Trennmauern hinweg das Wertvollste, das Menschen haben. Diese Kontakte sind durch geduldigen Dialog in Friedenszeiten langsam aufgebaut worden. Wenn Christen auf den Molukken mit Muslimen und wenn Muslime mit Christen reden wollen, dann können sie sich in Krisenzeiten auf die wertvollen Beziehungen stützen, die im Rahmen des interreligiösen Dialogs aufgebaut worden sind.

Auch dann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, über einen zivilen Frieden zu verhandeln, sind diese Beziehungen über die Trennmauern zwischen den Gemeinschaften hinweg eine grosse Stütze. In einem solchem Moment stellt man fest, dass das, was in einem langen Prozess des Dialogs, der Freundschaft, des Vertrauens, der gemeinsamen Sprachfindung aufgebaut worden ist, von grosser Bedeutung sind. Das soll nicht heissen, dass interreligiöser Dialog die Probleme löst, denn diese Probleme waren von allem Anfang an nicht religiöser Natur, können also auch nicht durch die Religion gelöst werden. Aber der Dialog trägt zur Lösungsfindung bei.

Hans Ucko: Wir sollten uns vor Augen halten, dass interreligiöser Dialog nicht wie eine Ambulanz funktioniert, sondern vielmehr wie vorbeugende Medizin: Wenn es uns gelungen ist, in langen Jahren des interreligiösen Dialogs ein gewisses Vertrauen aufzubauen, dann hilft dieses Vertrauen vielleicht auch in Konfliktzeiten weiter. Wenn Menschen uns fragen: "Warum habt ihr da nichts getan?", dann rufen sie nach dem Dialog wie nach einem Notarzt, der einen Konflikt auf seinem Höhepunkt beilegen soll.

Dwain Epps: Interreligiöser Dialog muss sich langsam entwickeln, um tief zu gehen. Er muss offen für Neues sein. Sein eigentliches Ziel ist es nicht, Spannungen zu lösen, wenn sie sich zum offenen Kampf entwickelt haben. Allerdings kann der Dialog, wie meine Kollegen eben geschildert haben, Möglichkeiten der Zusammenarbeit eröffnen. Auf einer anderen Ebene haben sich in vielen Teilen der Welt umfassende Strukturen der interreligiösen Zusammenarbeit zwischen Menschen verschiedener Religionen entwickelt, die nicht notwendigerweise an interreligiösen Dialogen teilnehmen. Diese Menschen engagieren sich als Vertreter und Vertreterinnen ihrer Religionsgemeinschaft für Frieden und Gerechtigkeit in ihrer Gesellschaft. Während wir uns hier unterhalten, findet gerade eine Begegnung zwischen interreligiösen Räten aus fünf westafrikanischen Ländern statt, deren Ziel die Beilegung interner Konflikte ist und die sich konkret mit der Lage in Guinea und der Elfenbeinküste befassen. Wir hatten von Anfang an beschlossen, dass wir als Christen nicht versuchen sollten, diese Diskussion allein zu führen, sondern dass wir die Sachkenntnis, die Erfahrungen, den guten Willen, die Toleranzbereitschaft und die praktische Arbeit interreligiöser Gruppen nutzen sollten, um dieses Problem gemeinsam anzugehen.

Karin Achtelstetter: Können Sie uns kurz erklären, wie die ÖRK-Teams für internationale Beziehungen und für interreligiöse Beziehungen und Dialog sich in ihren Bemühungen um Konfliktlösung und Friedensschaffung gegenseitig ergänzen?

Dwain Epps: Seit der Einrichtung einer Abteilung für interreligiösen Dialog vor vielen Jahren sind die Beziehungen zwischen diesem Teil des Rates und dem, der sich mit internationalen Angelegenheiten befasst, häufiger von Konflikten als von Zusammenarbeit geprägt gewesen. Dies galt besonders für den Bereich der christlich-jüdischen Beziehungen - und das zu einer Zeit, in der wir anfingen, uns sehr viel stärker als zuvor für die Förderung von Friedensgesprächen zwischen Palästinensern und Israelis einzusetzen. In anderen Bereichen fand das Team für internationale Angelegenheiten den interreligiösen Dialog zwar interessant, aber auch ein wenig esoterisch.

In letzter Zeit ist uns jedoch sehr stark bewusst geworden, dass sich die Welt radikal verändert. Wir wissen seit langem, dass Religion ein wichtiger Faktor in Konflikten und bei Menschenrechtsverletzungen ist. Aber jahrzehntelang haben wir auf Rat der direkt Betroffenen dafür optiert, die Konflikte in Nordirland, Sudan etc. bewusst als nicht-religiöser Natur darzustellen. Erst seit ca. 1991 ist uns zunehmend klar geworden, dass Religion heute zum zentralen Faktor von Konflikten geworden ist, während sie vorher vielleicht nur eine erschwerende Rolle gespielt hat.

Das führt uns im Team für internationale Beziehungen dazu, sehr viel intensivere Diskussionen und Formen der Zusammenarbeit mit unseren Kollegen und Kolleginnen im Team für interreligiöse Beziehungen anzustreben. Da wir aus unterschiedlichen Traditionen und Kontexten kommen und unser Arbeitsauftrag sich leicht unterscheidet, bemühen wir uns nun darum, eine gemeinsame Basis zu finden, auf der wir unsere Beziehungen in der Praxis aufbauen können. Wir haben in letzter Zeit grosse Fortschritte gemacht und sind bereit, diesen Dialog auf alle ÖRK-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen auszudehnen, damit wir gemeinsam zu einem sehr viel tieferen Verständnis von der Natur der neuen Herausforderungen gelangen können, denen wir uns heute gegenübersehen.

Hans Ucko: Ich glaube, wir müssen diese Frage in einem noch grösseren Zusammenhang sehen, nämlich im Blick auf das Selbstverständnis des ÖRK. Für den ÖRK ist die Wirklichkeit zunehmend von religiösem Pluralismus geprägt, im Sinne einer Bereicherung und im Hinblick auf bestehende Schwierigkeiten und Konflikte. Der ÖRK wird in seiner Arbeit davon ausgehen müssen, dass andere Religionen ebenfalls betroffen sind und sich engagieren. Wir sollten die von uns aufgebauten Beziehungen dazu nutzen, Mittel und Wege zu finden, wie wir Probleme angehen können, die die Probleme aller Menschen sind, nicht nur der Christen. Religionsfreiheit, Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheiten und Konfliktsituationen, in denen Religion eine Rolle spielt, sind Bereiche, in denen wir uns sicher gegenseitig ergänzen können. Es ist in unser aller Interesse, dass wir die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, zusammenzulegen.

Dwain Epps: Wir müssen uns auch nach dem Einfluss der Religion auf die Weltordnungspolitik fragen. Diese Frage veranlasst unsere beiden Teams wie auch den Rat als Ganzen, über bisheriges Denken hinauszugehen. Ich denke hier an zwei Initiativen von globaler Bedeutung: den letztjährigen UN-Millenniums-Friedensgipfel religiöser und spiritueller Persönlickeiten und Hans Küngs Weltethos-Initiative. Aber uns sind mindestens ein Dutzend weiterer Initiativen bekannt, die versuchen, mit vielleicht zu einfachen multireligiösen, häufig spirituellen oder spiritualistischen Antworten auf globale Probleme einzugehen, die internationale, zwischenstaatliche und säkulare Institutionen gegenwärtig zu überfordern scheinen. Hier müssen wir als Rat herausfinden, ob wir auf derselben Ebene mit Gemeinschaften zusammenarbeiten sollen, die vielleicht tausend Mitglieder haben, wie mit Gemeinschaften, die vielleicht eine Million Menschen oder gar ein Viertel der Weltbevölkerung umfassen. Wie können wir in diesem sich schnell verändernden neuen Klima verantwortlich und effizient Beziehungen zu und mit anderen aufnehmen? Welche Beziehung besteht zwischen Spiritualität, Religion, gesellschaftlichem Engagement und der Beteiligung von Gemeinschaften, die ja auch eine religiöse Identität haben, an der Entwicklung einer Weltordnungspolitik? Dies ist sicherlich ein Bereich, mit dem sich beide Teams noch intensiv auseinandersetzen müssen.

Hans Ucko: Sicher gibt es heutzutage Versuche, allzu einfache Lösungen für komplizierte Fragen anzubieten. Wir sollten uns dessen bewusst sein. Noch wichtiger ist jedoch, dass wir von Anfang an zusammenarbeiten, damit wir nicht nur spiritualisierend über Frieden und Harmonie reden - was zwar sehr schön klingt und wie Butter "runtergeht", aber keine Substanz hat. Wir müssen uns gemeinsam mit den verschiedenen multireligiösen Initiativen befassen, weil sie wie Pilze aus dem Boden schiessen. Alle möglichen, durchaus ernstzunehmenden Initiativen appellieren an uns: "Hört zu, bezieht die Religion in die Auseinandersetzung mit einigen der globalen Bedrohungen ein", aber einige bieten einfache und vorschnelle Lösungen an, ohne die wirklichen Probleme zu sehen.

Karin Achtelstetter: Können Sie eine Region und einen Problembereich nennen, in der bzw. dem wir zusammenarbeiten sollten?

Hans Ucko: Ich denke, wir wären dumm, wenn wir das Team für internationale Beziehungen nicht in die Untersuchung dieser globalen Initiativen miteinbeziehen würden. Es ist m. E. auch wichtig, dass die Teams für interreligiösen Dialog und für internationale Beziehungen sich gemeinsam mit den wichtigen Fragen im Hinblick auf Israel und Palästina auseinandersetzen. Wir haben über Indonesien gesprochen, wo es ebenfalls Probleme gibt, die beide Teams betreffen.

Dwain Epps: In Afrika entwickeln sich zurzeit ganz offensichtlich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Unser Engagement in Nigeria und Westafrika baut sehr stark auf den Früchten des christlich-muslimischen Dialogs auf. Andere interreligiöse und speziell christlich-muslimische Beziehungen in Westafrika sind hingegen nicht notwendigerweise das Ergebnis des vom ÖRK geführten interreligiösen Dialogs. In solchen Fällen werden wir die Gelegenheit nutzen und versuchen, das Team für interreligiöse Beziehungen über die Dinge in Kenntnis zu setzen, die wir aus der Perspektive der internationalen Beziehungen entdeckt haben.

Sudan ist ein weiteres Gebiet, in dem wir zusammenarbeiten können; die Lage dort ist extrem kompliziert und wird sogar von uns z.T. unterschiedlich beurteilt. Als der ÖRK 1971-72 in dem bereits damals herrschenden Konflikt eine Vermittlerrolle übernahm, waren an diesem Prozess Christen und Muslime beteiligt. Wir wurden vom Norden wie vom Süden explizit darum gebeten, den Konflikt nicht als religiösen Konflikt zu beschreiben, damit die Religionen die zwischen ihnen bestehenden Probleme gegenüber der Aussenwelt gemeinsam in einer Weise erklären könnten, dass die eigentlichen Konfliktursachen deutlich würden: Kolonialismus, Armut und politische Bedingungen. Heute befinden wir uns in einer Situation, in der sich die Positionen von Christen und Muslimen in einem solchen Ausmass verhärtet haben, dass keiner von ihnen mehr bereit ist, in einen wirklichen Dialog einzutreten. Und doch wissen wir, dass der Sudan ohne einen solchen Dialog langfristig keine Zukunft hat. Dies ist also ein weiterer Fall, der viel gemeinsame Arbeit erfordern wird, damit wir herausfinden können, wie wir unsere jeweiligen Beziehungen, Kompetenzen, Kenntnisse und Informationen am besten einsetzen können, um dem Frieden in einem mehr als dreissigjährigen Konflikt ein Stück näher zu kommen.

Karin Achtelstetter: Ich danke Ihnen für das Gespräch.


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