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26. Mai 2000

Mutiges Engagement der Kirchen Haitis zur Überwindung der Krise im Land
von Nathalie Baud


Allen Befürchtungen zum Trotz und ungeachtet der Gewalt, die das Land in den letzten Wochen regierte, fanden in Haiti am Sonntag, dem 21. Mai, die Parlamentswahlen statt. Eine entscheidende Rolle bei diesen Wahlen haben die Kirchen gespielt.

Am 3. April haben die evangelische und die katholische Kirche Haitis gemeinsam eine Botschaft an das Land gerichtet, in der sie die Behörden an ihre Pflicht erinnern, so schnell wie möglich Wahlen abzuhalten. Zum ersten Mal haben haitianische Katholiken und Protestanten gemeinsam öffentlich Stellung bezogen. Dieses Engagement verdeutlicht die Dringlichkeit der Lage und die Besorgnis der Kirchen. Doch das Engagement haitianischer Christen beschränkt sich nicht auf öffentliche Stellungnahmen: Seit mehreren Jahren leisten sie beachtliche Arbeit im Bereich der Bürgererziehung. Da es seit mehr als einem Jahr keine demokratisch gewählten Institutionen mehr gibt, haben sich die protestantischen Kirchen mehr denn je für die Durchführung demokratischer Wahlen und die Vorbereitung der Haitianer auf die Teilnahme an den Wahlen eingesetzt.

Der Evangelische Kirchenbund von Haiti (FPH), der die gesamten protestantischen Kirchen des Landes umfassst, angefangen von den Mitgliedern der evangelischen Kirche über die Episkopalen (Anglikaner) bis hin zu den Baptisten und Methodisten, hat die Christen über das Radio ermutigt, ihre Bürgerrechte wahrzunehmen. Seit mehreren Jahren sendet « Radio Lumière », ein evangelischer Radiosender, der sich über die FPH finanziert und eine breite Zuhörerschaft in Haiti hat, täglich eine Sendung zur Bürgererziehung, die auf kreolisch: « Haïti Plus : Pou' le monde changer ! » heisst. Es handelt sich um eine interaktive Sendung, bei der täglich etwa dreissig Hörer anrufen, um von ihren täglichen Sorgen und Anliegen zu berichten. Ein Gast in der Sendung, ein engagierter Christ, antwortet auf ihre Fragen. Die Botschaft der Sendung ist klar: In Anlehnung an biblische Worte wie *Ihr seid das Licht der Welt" will sie die Hörer davon überzeugen, dass das haitianische Volk sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, und dass Christen sich in der Politik engagieren müssen. Neben sechs weiteren haitianischen Rundfunkstationen, die seit mehreren Jahren ähnliche Sendungen zur Bürgererziehung ausstrahlen, hat « Radio Lumière » wirklichen Mut bewiesen. « Radio Lumière » und die anderen Stationen haben ihre letzte Sendung dieser Art am 3. April 2000 ausgestrahlt. An diesem Tag wurde der sehr bekannte haitianische Journalist Jean Dominique ermordet, der den Radiosender « Haïti Inter » geleitet hat.

Der Evangelische Kirchenbund von Haiti hat ebenfalls 500 junge « Leiter » ausgebildet, die ihrerseits in allen Gemeinden des Landes an der Bürgererziehung der Haitianer mitgearbeitet haben. Eines ihrer Ziele besteht beispielsweise darin, die Menschen zu befähigen, ihre Wahlkriterien selbst zu definieren. Sie werden ermutigt, ihre Stimme den Kandidaten zu geben, die im Bereich von Politik und Verbänden bereits Nützliches geleistet haben, und sie werden ermutigt, sich über die Unbescholtenheit der aufgestellten Kandidaten zu informieren. In einem Land mit 55 % Analphabeten und 29 000 Kandidaten sind solche Vorsichtsmassnahmen sicherlich angebracht.

Aber die haitianischen Kirchen haben auch ihre Aufgabe als aktive Wahlbeobachter bei den Parlamentswahlen sehr ernst genommen. Zweihundert internationale Beobachter sind nach Port-au-Prince gereist. Zum ersten Mal aber haben die Haitianer beschlossen, selbst eine Wahlbeobachtung durchzuführen. Mit 30 000 nationalen Beobachtern, von denen 1000 direkt von den Kirchen eingesetzt worden waren, hat Haiti zum ersten Mal Wahlen erlebt, die vom Volk selbst überwacht wurden. Edouard Paultre, Generalsekretär des Evangelischen Kirchenbundes von Haiti, ist der Meinung, dass die Christen der Mobilisierung der haitianischen Zivilgesellschaft für freie Wahlen Schubkraft geben. Er geht davon aus, dass 40 % der nationalen Beobachter engagierte Christen sind.

Die Wahllokale sind bereits seit einigen Tagen geschlossen, doch die Arbeit der Beobachter geht weiter. Zahlreiche Unregelmässigkeiten wurden festgestellt, und nun obliegt es den Beobachtern, Christen wie Nichtchristen, sie in ihrem Beobachterbericht festzuhalten: Missachtung des Wahlgeheimnisses, fehlende Ausbildung des Personals in den Wahllokalen, Versuche, Druck auf die Wähler auszuüben oder die Beobachter einzuschüchtern, ganz zu schweigen von dem Wahlmaterial, dass nach Schliessen der Wahllokale unbeaufsichtigt liegen blieb - Probleme, mit denen auch grosse Optimisten wie Edouard Paultre gerechnet hatten. Diese Wahlen werden wohl massiv angefochten werden.

Dennoch bleiben die haitianischen Kirchen und viele Verantwortliche in der Gesellschaft von der Hoffnung beseelt, dass die Wahrheit über den Wahlvorgang hilfreich für die Zukunft sein wird. Im Jahr 2000 wollen immer mehr Haitianer ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Beweis dafür ist die erste Pressekonferenz, die am 16. Mai in Port-au-Prince von der Gruppe Initiative der Zivilgesellschaft einberufen wurde, die Arbeitgeber, Gewerkschaften, Vertreter des privaten und öffentlichen wie auch des medizinischen Sektors und der Kirchen umfasst. Die Haitianer wollen die Demokratie, aber nicht um jeden Preis.

Alle Regierungs- und Oppositionsmitglieder, die aus den Wahlen hervorgehen werden, müssen in Zukunft mit einer Zivilgesellschaft rechnen, die nach dem Sturz der Diktatur im Jahr 1986 für starke demokratische Institutionen kämpft und für ein Ende der für das Land so schädlichen Machtkämpfe zwischen den Parteien. Diese Zivilgesellschaft scheint heute ein unumgänglicher politischer Akteur in Haiti geworden zu sein.

Fotos aus Haïti sind verfügbar unter: Photooikoumene
Nathalie Bauds Fotos des Besuchs auf Anfrage erhältlich


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